: Bedrohung des Kinos durch Fernsehen und Video?
TV, Geburtshelfer des deutschen Films / Video, Einstiegsmedium der 20jährigen ■ I.
Schon in der Formulierung des Themas steckt eine These, die unter bundesdeutschen Cineasten weit verbreitet ist: die These, daß Fernsehen und Video das Kino verdrängen und daß dies ein beklagenswerter Vorgang sei.
Alexander Kluge etwa, der Vordenker des Neuen Deutschen Films, rechnet das Kino zu den Formen „klassischer Öffentlichkeit“, deren Urbild der Marktplatz der attischen Polis ist. Öffentlichkeit ist das Lebenselexier demokratischer Gesellschaften. Mit dem Schwund des Kinos geht - so meint Kluge - ein Öffentlichkeitsverlust, ein Schwund an sozialen Artikulations- und Verständigungsmöglichkeiten einher - und zwar zu Lasten neuer „Produktionsöffentlichkeiten“, die vor allem den Interessen kapitalstarker Konzerne dienen. Fernsehen sei wie Fern-Trauung letztlich eine Absurdität, meint Kluge: Kommunikation setze Nähe voraus, leibhaftige Anwesenheit, und die ermöglicht das Kino als Ort der gesellschaftlichen Begegnung.
Dank solcher Argumente fiel es bundesdeutschen Cineasten leicht, nicht nur an ihrer Liebe zum Kino festzuhalten, sondern sie auch mit der Aura des kulturell Notwendigen, ja des demokratisch Nützlichen auszustatten. Kino ist gut, Fernsehen und Video sind schlecht: So plump würde es zwar kaum einer sagen, aber die Gefühlslage deutscher Cineasten läßt sich durchaus auf diesen Nenner bringen. II.
Zu diesem kulturkritischen Lamento habe auch ich jahrelang beigetragen. In letzter Zeit jedoch sind meine Zweifel an den Denkfiguren, die diesem Lamento zugrunde liegen, immer stärker geworden. Ein Gutteil der Liebe zum Kino, auch meiner eigenen, scheint mir weniger seinen tatsächlichen Qualitäten geschuldet zu sein als vielmehr der Trägheit des Gefühls, das die Wiederkehr vertrauter Genüsse, auch wenn sie noch so bescheiden geworden sind, dem Risiko neuer Erfahrungen vorzieht.
Kluges These, daß das Kino ein Ort „klassischer Öffentlichkeit“ sei, entspringt liebevollem Wunschdenken. Gewiß wächst das amorphe Publikum vor der Leinwand manchmal zu einem Ganzen, einer Gemeinschaft zusammen - wenn der Saal voll & der Film danach ist, was beides selten genug der Fall ist. Und ab und zu fährt dieser ideale Gesamtzuschauer die dramaturgische Fieberkurve eines Filmes nicht einfach nur nach, sondern macht sich selbständig, eignet sich den Film auf seine Weise an, kommentiert und kritisiert ihn. Solche Augenblicke lustvoller Eigenmächtigkeit ermöglicht das Kino zwar prinzipiell, aber sie sind selten. Der ideale Kinobesucher ist nach wie vor der hingerissene, überwältigte, seine Überwältigung durch die Kinomaschine genießende Zuschauer.
Und er bleibt für sich. Selbst wenn die von Cineasten heiß ersehnte Vereinigung der anonymen Einzelnen zu einem Publikum stattgefunden hat: Sobald das Licht angeht, ist es vorbei damit. In Sekundenschnelle setzt sich die soziale Anomie wieder durch, und man ist einander wieder fremdf bis an die Schmerzgrenze des Peinlichen. In diesem Sinne funktioniert jedes Kino wie ein Pornokino.
Diese massenpsychologischen Phänomene im dunklen Kino haben wenig gemein mit jener kontinuierlichen Reflexion und Diskussion, der etwa die bürgerliche Öffentlichkeit im Deutschland des 18.Jahrhunderts prägte und die Kluge Habermas folgend - vor Augen hat, wenn er von „klassischer Öffentlichkeit“ spricht: ein Prozeß kollektiven Räsonnierens, in dem die metaphysischen Fiktionen der alten, feudalen Ordnung nach und nach durch rationales, vernünftiges Denken zersetzt wurden.
Daß das Kino - ähnlich dieser bürgerlichen Öffentlichkeit die Durchsetzung gesellschaftlicher Vernunft befördert, erscheint mir höchst zweifelhaft. Für die Bundesrepublik legt der empirische Augenschein eher die entgegengesetzte These nahe: Zeiten hohen Kinobesuchs, die späten vierziger und die fünfziger Jahre etwa, waren bei uns Zeiten der politischen Reaktion; daß seit 1985 die Kinobesucher-Zahlen wieder steigen, mag auch ein Ausdruck des konservativen Zeitgeists sein, der sich seit dem Ende der sozialliberalen Ära durchgesetzt hat. III.
Die andere Denkfigur, die dem Lamento der Cineasten über das Kinosterben zugrunde liegt, ist die vom Verdrängungswettbewerb zwischen dem Kino und den neuen Medien der Film-Distribution. Gewiß ging das Kinosterben der sechziger und siebziger Jahre aufs Konto der Ausbreitung des Fernsehens; gegen die öffentliche Konsumtion zu Hause durch, weil sie billiger und bequemer ist. Ich bin mir nicht sicher, wie substanziell die damit verbundenen Öffentlichkeitsverluste tatsächlich waren: Zu Hause vorm Fernseher wird vermutlich eher mehr diskutiert als nach oder gar im Kino. Gelitten hat gewiß die Intensität der Filmerfahrung, der Grad der Aufmerksamkeit, Versenkung, Überwältigung; im Fernsehen werden Filme eigentlich nur zitiert, und sie sind Teil eines prinzipiell endlosen Programmflusses, während im Kino jeder Film für sich steht und im Zuschauer eher nachwirken kann.
Gewiß, das Fernsehen hat dem Kino seine Massenbasis entzogen. Zumindest in Westeuropa aber hat das Fernsehen auch dazu beigetragen, daß ein neuer Typus von Kino entstehen konnte. Seit Mitte der siebziger Jahre haben die bundesdeutschen Fernsehanstalten systematisch in Filme investiert, die zunächst im Kino ausgewertet und dann im Fernsehen ausgestrahlt werden. Ohne diese Unterstützung durch das Fernsehen wäre der Aufschwung des neuen deutschen Films nicht möglich gewesen, könnte er nicht überleben. Das Gros dieser Film-Fernseh-Koproduktionen hat in den herkömmlichen Kinos der Bundesrepublik keine Chance, weil deren Betreiber genauso konservativ sind wie das Gros der Film-Produzenten, die vor der Intervention des Fernsehens den Ton angaben. Für die Auswertung solcher Autoren-Filme, die aus Fernseh- und öffentlichen Förderungsgeldern finanziert werden, enstanden seit den frühen siebziger Jahren in der Bundesrepublik die sogenannten Programmkinos. Wenn bundesdeutsche Cineasten vom Kino reden, das sie schützen und erhalten möchten, dann meinen sie in der Regel einen kleinen Ausschnitt der Kinolandschaft, knapp 300 der zur Zeit rund 3.300 bundesdeutschen Kinos - und deren heimliches Rückgrat, dessen wichtigste Programmquelle die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten sind. IV.
Was die Durchsetzung des Videorekorders seit Ende der siebziger Jahre angeht, so vermute ich, daß sie dem bundesdeutschen Kino insgesamt eher genützt als geschadet hat.
1. Die heute 20- bis 30jährigen haben den Film überwiegend durchs Fernsehen kennengelernt. Ihnen ermöglicht der Videorekorder einen freieren, stärker selbstbestimmten Umgang mit Filmen. Wer sich auf diese Weise mit Filmen beschäftigt, wird eher dazu neigen, auch mal ins Kino zu gehen - eher jedenfalls als der durchschnittliche Fernsehkonsument, der darauf abgerichtet wurde, mit dem zufrieden zu sein, was ihm das vorgegebene Programm offeriert. Dank des Videorekorders ist ein neues Film -Publikum entstanden, das sich nach Lust und Laune zwischen den Medien bewegt.
2. Um ein Publikum anzuziehen, das die Wahl zwischen verschiedenen Konsumtionsformen hat, mußten die Kinos in Vorführ-Technik und Ambiente investieren. Die Aufteilung großer Kinos in viele kleine im Schuhkarton-Format wurde eingestellt, und bei Kino-Neubauten wird endlich wieder auf große Leinwand, bequeme Bestuhlung und guten Ton Wert gelegt. Dank der Konkurrenz der vielen kleinen Bildschirme hat sich auch bei den notorisch langsamen Kinobetreibern herumgesprochen, daß ein Kinobesuch ein intensives Erlebnis sein muß.
3. Im übrigen hat die Ausbreitung der Videotheken das Prestige des Kinos angehoben. Verglichen mit den B- und C -Filmen, den Horror- und Porno-Filmen, die viele der Videotheken offerieren, sieht das Programm auch eines normalen Innenstadt-Kinos geradezu anspruchsvoll aus. Jetzt, wo jeder sehen (oder in besorgten Presseberichten lesen kann), welch unglaublicher Schund auf dem internationalen Software-Markt kursiert, wirkt das Kino schon beinahe als Ort des Anstands und des gehobenen Geschmacks. Jetzt, wo sie wissen, wieviel schlimmer es sein könnte, ist das Kino auch den Konservativen ans Herz gewachsen: In keinem Bundesland werden Kinos so demonstrativ gefördert wie im Freistaat Bayern.
Kraft Wetzel
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