: Wiederkehr der Verdrängten
■ SPD lädt Alt-SDSler zum Versöhnungsmahl /Dreißig Intellektuelle auf der Suche nach der „kritischen Intelligenz“
Als man sich schon sehr nahe gekommen war, als die ehemaligen SDSler und die SPD-Parteivorständler unter dem Begriff einer „kritischen Kooperation“ eine gemeinsame Zukunft auszuloten begannen, kam der Bruch, kam ein neues Medium: Helke Sander, Feministin, Filmemacherin, Schriftstellerin, die Frau also, die damals auf der berühmten Delegiertenkonferenz 1969 die Brandrede gegen die Männerherrschaft im SDS gehalten hatte, wollte sich - wie sie sagte - „mit meinen Mitteln“ an der Diskussion beteiligen.
Schon quetschte sich ein Kamerateam durch das enge Spätbarock des „Politischen Clubs“ in der Friedrich-Ebert -Stiftung und plötzlich erwarteten alle Helke Sanders unangenehme Fragen vor der Kamera: Ob man sich als Deutscher, als deutscher Mann „schon einmal“ geschämt habe. „Nein“, sagte Oskar Negt unter dem verblüfften Gemurmel der anderen und war aus dem Spiel. Andere hatten sich geschämt. Die nächste Frage: Ob man sich „als Mann“ schon einmal geschämt habe. Joscha Schmierer (Heidelberger SDS, KBW -Vorsitzender) erkannte sofort, daß dies - im Zusammenhang mit der ersten Frage - „eine Fangfrage“ sei. Christian Semler ( Berliner SDS, später KPD) analysierte, schämen könne man sich nur, wenn man auch eine derart allgemeine Verantwortung beanspruche. „Als alter Linker würde ich sagen, Genossin, diese Frage ist so falsch gestellt.“ Tilmann Fichter (Berliner SDS, jetzt Beauftragter für die SPD-Parteischule und Moderator des Abends) bedauerte, daß der SDS damals, 1969, zu dumm war, um auf den Aufstand der Frauen richtig zu reagieren. Mit dieser verspäteten Selbstkritik schien er anzudeuten, daß derlei unangenehme Konfrontationen heute hätten vermieden werden können.
Alter Frauenaufstand, neuer Feminismus? Alte und neue Intransigenz zwischen den SDSlern: „Genosse, wie stehst Du eigentlich zu dieser Frage?“ Etwas war wieder da, wiederbelebt.
Wiederbelebung
Wiederbelebung war geplant gewesen, an diesem Montag abend in Bonn; allerdings nicht diese Art von Wiederbelebung. Historische Erinnerung. Am 6.11.1961 schloß die SPD durch den sogenannten „Unvereinbarkeitsbeschluß“ Mitglieder aus dem SDS aus der Partei aus. Zur damaligen Zeit der antikommunistischen Kultur ein Versuch des politischen Totschlags. Es war die Geburtsstunde der neuen Linken. Die SPD hatte, wie es Peter von Oertzen bei der Begrüßung sagte, auf „einen Teil der Produktivkraft Denken“ verzichtet und die „kritische Intelligenz“ gewaltsam auf eigene Füße gestellt.
Im Juni 1988, 27 Jahre später, hat die SPD diesen „Unvereinbarkeitsbeschluß“ und die Ausschlüsse für gegenstandslos erklärt. In dem neuerlichen Beschluß dankte die Partei für die historischen Impulse des SDS, bedauerte das eigene Theoriedefizit und sprach die Hoffnung auf einen kritischen Dialog aus. Manche hatte diese Revision beeindruckt. Schließlich ist es bei einer deutschen Partei nicht selbstverständlich, noch nach Jahrzehnten Fehler ernstzunehmen und zu korrigieren. Andere rieben sich verwundert die Augen ob des Versuchs, Geschichte revidieren zu wollen. Nur Peter von Oertzen rechtfertigte mit Leidenschaft den Beschluß von 1988. Er sei ein „Akt der historischen Gerechtigkeit“ und Symbol dafür, daß „diese Fraktion, die den Unvereinbarkeitsbeschluß getragen hat, endgültig geschlagen ist“.
Nun kann man Vogel glauben, wenn er meinte, ein solcher Beschluß sei „unwiederholbar“. Aber ob das schon der Beweis dafür ist, daß diese Fraktion geschlagen sei, steht dahin. Über Helmut Schmidts SPD mochten die SPD-Vertreter nicht so recht reden. Der Bonner Abend jedenfalls war der Inszenierungsversuch einer historischen Stunde, der offizielle Akt der Wiederaufnahme des „kritischen Dialogs“, der vor dreißig Jahren abgebrochen wurde. Daß es die SPD ernst meinte, unterstrich jedenfalls die Anwesenheit von Jochen Vogel, der eifrig mitschrieb.
Zweideutigkeit
Konnte das gutgehen, auch wenn man nicht nachtragend sein will; wenn man für einen Augenblick die Geschichte von sozialdemokratischer Repression und linksradikalem Antisozialdemokratismus vergessen will? Geladen waren etwa dreißig SDSler, Frauen in der Minderheit - wie es die Geschichte eben will. Ein Teil von Ex-Ausgeschlossenen, heute zumeist Hochschulprofessoren; ein Teil 68er, ohne sozialdemokratische Vergangenheit und eher nicht in Besitz von Lehrstühlen. Schon diese Mischung verlockte dazu, SDS -Generationen zu definieren (die Zählung ging bis neun Generationen); am Ende blieb ungeklärt, woraus nun die „kritische Intelligenz“ besteht.
Die 68er neigten eher dazu, in diesem Wort eine historische Schlupfform der einstigen revolutionären Linken zu sehen; die Vor-68er, die Ex- Ausgeschlossenen versuchten auszuloten, was denn die Partei sich unter einer Zusammenarbeit mit der kritischen Wissenschaft vorstellen könnte. An eins war aber nicht gedacht, das erklärten die anwesenden SPD-Vorständler bemerkenswert vehement: an Mitgliedswerbung.
Dilemma
Jürgen Seifert (Jurist, Ex-Ausgeschlossener und Aktivist in der Kampagne gegen die Notstandsgesetze) betonte im Einleitungsreferat, daß die verheilten „Wunden“ von 1961 doch noch schmerzen. Aber: „Es bringt uns nichts, in den Kübeln von Schmutz und in den Intrigen der Politik zu wühlen, die nahezu jeden Bruch einer intensiven Beziehung begleiten. Wir wollten damals nicht die Trennung; heute wollen wir weder etwas kitten noch bitten wir um neue Mitgliedsbücher.“ Er warf der SPD vor, sie habe damals nicht nur die Theorie der Arbeiterbewegung, den Marxismus ausgeschlossen, sondern überhaupt die Dialektik zwischen Theorie und Praxis aus der Partei verbannt. Vor allem aber kritisierte er die „Geheimdienstmethoden“, mit denen die SPD die kritische Jugend vertrieben habe.
Die Intervention kam prompt: Christian Semler monierte die Verkürzung auf das Jahr 1961 und fand Seiferts Referat als „zu harmlos“. Er verwies auf die ungebrochene Geschichte der sozialdemokratischen Kampfes gegen eine radikale Linke, auf die Notstandsgesetze, die Große Koalition, das Berufsverbot bis hin zum Deutschen Herbst. Aber gleichzeitig formulierte er das Dilemma des Abends: einerseits war niemand bereit, wegen der freundlichen Einladung diese Geschichte zu vergessen; andererseits war es mit Selbstachtung nicht recht vereinbar, sich als Opfer der Sozialdemokratie zu präsentieren. Semler fragte sich, wie die SPD 1978 den „massiven Block von Unterdrückungsmaßnahmen“ habe verdrängen können. Die bis zu diesem Jahr sich verschärfende Konfrontation habe sich vor allem durch Verfall der neuen Linken aufgelöst.
In der Tat hat die Versammlung etwas Schimärisches: da der Streit abgestumpft und tot ist, konnte eigentlich kein Dialog wieder beginnen, allenfalls eine Diskussion geführt werden. Aber worüber?
Gemeinsamkeit
Für das Schlüsselreferat war Oskar Negt ausersehen. Er betonte die grundsätzlichen Schwierigkeiten zwischen Partei und Intelligenz und zitierte heimtücktisch einen Brief von Friedrich Engels. Engels meinte, daß bei Ausbruch der Revolution das „Kathedersozialistengesindel“ unterdrückt werden solle; die fehlenden Techniker könne man „kaufen“. Jochen Vogel, dem man fleißige Marx-Lektüre in der letzten Zeit nachsagt, wollte das Zitat vor den gefürchteten Marxisten identifizieren. Es mißlang ihm.
Negt wollte mit dem Zitat sagen, daß Ausgrenzung von Intelligenz als ein grundsätzliches Problem des organisierten Sozialismus anzusehen ist. Allerdings zielte er nicht so sehr auf die Intellektuellenfeindschaft im sozialdemokratischen Milieu. Sie wurde an diesem Abend nicht einmal thematisiert, geschweige denn analysiert. Negt wollte kein Scherbengericht der „kritischen Intelligenz“ gegenüber der SPD, sondern das Erkennen der Gemeinsamkeit. Er meinte, daß das grundsätzliche Problem „unserer politischen Kultur“ das Problem zwischen SPD und „kritischer Intelligenz“ sei. Gewissermaßen keine politische Kulter ohne Versöhnung zwischen beiden Lagern. Er definierte es als Dialektik von Großorganisation und dezentralisierter Praxis und war mithin bei der Frage, wie denn der Tanker SPD die Impulse von draußen aufnehmen könne.
Gegensatz
Gedacht war, daß mit dieser Intervention die Vergangenheitsbewältigung abgeschlossen werde. Anschließend sollte man sich dem künftigen Verhältnis von SPD und Intelligenz zuwenden. Allein, die Versammlung hatte mehr Lust auf Vergangenheit. Einerseits wollten sich die Anwesenden bis zur „Godesberger Wende“ (Altvater) und der Misere der BRD-Geschichte zurückarbeiten. Andererseits lief eine Selbstverständigungsdiskussion zwischen den SDS -Generationen. Man wollte auch nicht unvermittelt zur Tagesordnung der Zukunft übergehen, ohne nicht die Rechnung all dieser Jahre zu präsentieren.
Ursel Schmiederer (Sozialistisches Büro) sprach von der „Theorieverlassenheit der SPD aus eigener Schuld“. Und: „Wie weit der Glotz kritisch ist, weiß ich nicht - ein paar Begriffe von Gramsci reichen nicht.“ Eine paradoxe Situation: da war der imaginäre grüne Tisch, an dem die Delegierten der „kritischen Intelligenz“ über die Vertragsbedingungen mit der Partei verhandelten (Kritische Kooperation“); da war aber auch das hin und her der Selbstkritik.
Wolfgang Nitsch stellte die „Kritische Intelligenz“ zurecht in Frage; schließlich habe sie im Deutschen Herbst versagt und sich entsolidarisiert. Dieses Bedürfnis nach Selbstverständigung der Eingeladenen rumorte immer wieder, ohne daß eine Klärung denkbar war. Das lag vor allem daran, daß die Geschichte der neuen Linken seit 1961 so generös in den Begriff „kritische Intelligenz“ gesteckt wurde. Logischerweise mußten die Diskutanten dann eben so oft die antiautoritäre Bewegung, die K-Gruppen-Zeit etc. Wieder aus diesem Begriff herausholen.
Schließlich stellte Joscha Schmierer definitiv fest, daß ohnehin die falschen Leute eingeladen seien. Denn: wenn es die Studentenbewegung nicht gegeben hätte, dann hätte es auch keinen Sinn, über den SDS zu reden. Er distanzierte sich von der Periode 1961-68 und zog eine Linie von '68 bis heute: „Die Vergesellschaftung von Politik ist bis heute nicht abgebrochen.“ Also keine „kritische Kooperation“, sondern Fortsetzung dieser Geschichte. Damit hatte er sich rhetorisch aus dem „Politischen Club“ der Friedrich-Ebert -Stiftung verabschiedet. Doch so konsequent wollten die anderen Intellektuellen wiederum nicht hinter der 68er Revolte zurücktreten.
Kurzum: Über den Begriff „kritische Intelligenz“ gab es weder eine Einigung noch eine Auseinandersetzung. Jeder argumentierte aus seiner eigenen historischen Nische heraus. Und noch etwas wurde deutlich: Wirkliche, individuelle Probleme hatte niemand mit der SPD. Die einen hatten längst und ganz selbstverständlich ihre Ansprechpartner in der SPD; die anderen beziehen sich in ihrer Arbeit ebenso selbstverständlich auf die Grünen. So könnte man den Abend eher so zusammenfassen: dreißig Intellektuelle auf der Suche nach der „kritischen Intelligenz“.
Köder
Horst Kern, Professor in Göttingen, war es dann, der den entscheidenden Köder auswarf. Er unterstrich die Gefahr, daß die heutige technische Intelligenz, der „moderne Arbeitnehmer“ - nicht mehr durch die Gewerkschaften politisch gebunden - tendenziell „rechts bindbar“ sei. Die Intelligenz müsse dringend „Interpretationsmuster“ entwickeln, die diese nach links binden könnte. Das war nun das unwiderstehliche Parfüm der historischen Aufgabe. Ab dann florierte der Begriff der „kritischen Kooperation“ erst richtig. Die SPD-Vertreter begannen zustimmend zu nicken. Diese Formeln hatte Glotz offenbar nicht umsonst geprägt.
Aber ob der intellektuelle Kampf um die Hegemonie der Begriffe als flankierende Maßnahme zur Mehrheitsbeschaffung ernsthaft die Ortsbestimmung der Intellektuellen erleichtern könnte, wurde kaum noch gefragt. Dann kam die zitierte Provokation von Helke Sander. Die Diskussion nahm das beschriebene Hin und Her wieder auf. Wie es das Schicksal wollte, hatte Oskar Negt das Schlußwort: Er sprach den Versammelten das Recht auf intellektuelle Arroganz gegenüber der SPD ab. Denn die neue Linke, vor allem die K-Gruppen hätten in den 70er Jahren „eine Schädelstätte verlorener Hoffnungen“ hinterlassen. Selbstreflexion sei geboten.
Allerdings: auch die SPD müsse sensibler werden und aufnehmen, was in „Laboratorien“ der neuen Bewegungen sich entwickle. Ob sie das kann, oder: ob es die Frage der „kritischen Intelligenz“ heute überhaupt ist, wie sie mit der SPD kooperiert, wurde nicht geklärt. Schließlich könnte man auch denken, daß das Parteiensystem veraltet ist und es viel wichtiger sei, daß die Intelligenz politisch autonom und aktuell agiert, um neue Koalitionen quer zu den Parteien politisch wirksam werden zu lassen.
Daß die Intelligenz heute zwischen Modernisierung und Sozialismus, zwischen Späth, Biedenkopf, Lafontaine, zwischen der SPD, den Grünen, den Gewerkschaften und den „neuen sozialen Bewegungen“ laviert, sprach niemand an. Offenbar aus Achtung vor der historischen Stunde. Fazit: Ein Dialog fand nicht statt. Die Beteiligten grüßten sich von den verschiedenen „Gipfeln der Zeit“ (Hölderlin) und signalisierten sich mit Begriffen. Außerdem wartete nun wirklich das kalte Büffet, und die Versammelten wandten sich ihm zu mit dem betretenen Gefühl, daß man schon mal besser gewesen war.
Peter von Oertzen, der offensichtlich mit Herzblut sich beteiligte, wollte noch schnell erzählen, warum er damals trotz „Unvereinbarkeitsbeschluß“ in der SPD geblieben sei. Aber diese Leidensgeschichte wollte niemand mehr hören. Es wurde rüde abgewinkt.
Kaltes Büffet
Mit dem kalten Büffet begann das Wiedersehen. Tischverteilung nach Generationen. Zufällig saßen sich Jochen Vogel und Jürgen Seifert gegenüber. Seifert sagte Vogel, er könne nur dann mit ihm reden, wenn gleich er feststellen dürfe, er sei „ein schlechter Justizminister“ gewesen. Dem konnte Vogel nicht so recht zustimmen und verwies seinerseits auf das fortschrittliche Scheidungsgesetz.
Klaus Hartung
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