: Auch 1989 kein freies Vögeln für freie BürgerInnen
■ Der „Aids-Schock“ ist erstmal vorbei / Hysterie hat abgenommen / „Gelöste“ Sexualität kein Grund, sorglos zu sein / Berlin hat die meisten Aids-Erkrankten
„Die Deutschen lieben wieder drauflos“ war gestern als Motto für eine neue Serie zum Thema Sex in der 'Bild-Zeitung‘ zu lesen. Auch der 'Spiegel‘ entdeckte zum neuen Jahr die „Flammende Lust“ (allerdings in New York), nachdem das Magazin aus seuchenhygienischen Erwägungen jahrelang gegen die ungezügelte Sexualität zu Felde gezogen war. Begründet wird die Prognose, daß 1989 „eines der wildesten Jahre der Libido“ ('Spiegel‘) sein wird, mit der öden Langeweile, die sich in den Amüsierbetrieben New Yorks durch Aids-bedingte Enthaltsamkeit breit mache, und durch die Tatsache, daß die schwarzen Voraussagen der frühen Aids-Jahre nicht im befürchteten Ausmaß eingetroffen sind.
Kein Grund zur Entwarnung. Bundesweit gibt es geschätzt etwa 27.000 HIV-Infizierte, davon 72 Prozent Homo beziehungsweise Bisexuelle sowie zehn Prozent Fixer. Berlin steht, gemessen an der Einwohnerzahl, weiterhin an der Spitze bundesdeutscher Aids-Statistiken. So wurden in der Stadt 571 manifest an Aids Erkrankte im Zeitraum vom 1.1.82 bis zum 31.12.88 registriert, von denen 209 verstorben sind (bundesweit: 2.779 Erkrankte und 1.146 Verstorbene).
Die Berliner Aids-Hilfe bestätigte auf taz-Nachfrage zwar einen gelösteren Umgang mit der Sexualität, aber als Entwarnung sei das nicht zu werten. „Die Präventionsbotschaften sind angekommen“, so die Pressesprecherin gestern. Das bewirke, daß die Aids-Hysterie abgenommen hat und ein realistischerer Umgang mit der Situation vorherrscht. Auch eine Sprecherin des Prostituierten-Selbsthilfeprojekts „Hydra“ berichtete, daß die Leute besser aufgeklärt seien: „Der Aids-Schock ist erst mal vorbei.“ Das hieße aber nicht, daß zur freien Fahrt für freie Liebe aufgerufen werden könne. Schutzmaßnahmen seien nach wie vor wichtig.
Aber nicht nur vor Aids, sondern auch und vor allem vor der Aids-Angst soll geschützt werden. Ein Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe begrüßte daher auch die Tendenz, daß sich die Hysterie abgebaut hat. Die Aids-Beratung werde aber dennoch in Anspruch genommen. Die Tendenz geht jedoch dahin, daß nicht bei allen Ratsuchenden die gewünschten HIV-Tests durchgeführt werden. Die Erfahrungen zeigten, daß negative Testergebnisse oft nicht nur als Erleichterung gewertet würden, sondern auch als zukünftiger „Freifahrtschein“. Positive Ergebnisse, die oft noch nicht einmal immer 100prozentig sicher seien, führten dagegen häufig zu Überreaktionen, im Extremfall bis zum Selbstmord. Dadurch werde ein neuer „Betreuungsbedarf“ geschaffen, so der Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe. „Ein überwiegend infektionsrelevantes Verhalten wird mittlerweile, vor allem in der Homosexuellen-Szene, sowieso vermieden. Und ein völlig infektionsfreies Verhalten ist Illusion.“, heißt es.
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