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Nicaragua kämpft mit 20.000prozentiger Inflation

1989: ein Jahr der Entbehrungen / Ministerien sollen um mehr als ein Drittel einsparen / „Kompaktierung“ ist das neue Wort für Arbeitsplatzabbau / Hilfeleistungen konnten nur einen Bruchteil des Hurrikan-Schadens ausgleichen / Indexlöhne im Gespräch / Bustarif zweihundertfach verteuert / Keine erneute Währungsreform  ■  Aus Managua Ralf Leonhard

Gegen Ende des vergangenen Jahres rief der Minister für Budget und Planung die Kollegen von den Ministerien für Gesundheit, Unterricht und Soziales zu sich: Sie sollten sich Vorschläge für substantielle Einsparungen in ihren Ressorts überlegen. Als Dora Maria Tellez, Fernando Cardenal und Reynaldo Tefel ihre Austeritätspläne vorlegten, sollen sie beim Budgetminister sarkastische Heiterkeit erregt haben: Ihre Vorschäge seien lachhaft, mußten sie sich sagen lassen. Es ginge darum, in jedem Bereich nicht weniger als 40 Prozent einzusparen, ohne dabei die grundlegenden Dienstleistungen aufs Spiel zu setzen.

1989 wird für Nicaragua ein Jahr der Entbehrungen - eines von vielen, die noch folgen werden. Die Budgeteinsparungen bedeuten nicht nur, daß ab sofort durch rigorose Kontrolle jeder Verschwendung ein Riegel vorgeschoben wird, daß die staatlichen Subventionen für Privatschulen gestrichen werden und diese wieder Eliteinstitute für die Reichen werden, daß gewisse Behandlungen im Spital nurmehr gegen bare Münze verschrieben werden und daß kein Ministerium in diesem Jahr neue Geräte einkaufen darf - sie bringen auch eine neue „Kompaktierungswelle“. Compactacion ist der seit letztem Jahr gebräuchliche Euphemismus für Massenentlassungen. In der Stadtverwaltung von Managua werden 300 Arbeitsplätze gestrichen und das Unterrichtsministerium muß 600 Angestellte „kompaktieren“. Technisch gesehen werden sie nicht auf die Straße gesetzt: Es wird den Betroffenen ein alternativer Posten, in der Regel in der Provinz, angeboten. Erfahrungsgemäß verzichten die meisten dankend auf dieses Angebot und investieren ihre Abfindung von drei Monatsgehältern, um in den Schwarzmarkt einzusteigen.

Waffenruhe brachte Entlastung

Auch vor den heiligen Kühen macht die Sparpolitik nicht Halt: Das Innenministerium muß gegenüber dem Vorjahr 40 Prozent einsparen, die Armee immerhin 29 Prozent. Die Verteidigungskapazität werde dadurch nicht vermindert, versicherte Präsident Ortega in seiner Neujahrsansprache, die er vor ausgewählten Soldaten auf einer Militärbasis hielt. Die Contra sei zwar ein Kadaver, aber noch nicht begraben. Auch die Gefahr einer Direktintervention von US -Truppen könne man noch lange nicht ausschließen. Neun Monate - wenn auch fragiler - Waffenruhe haben zwar zu einer Entlastung des Verteidigungsbudgets geführt, an eine Lockerung der Wehrpflicht denkt man allerdings nicht, solange der verbindliche Friede noch eine süße Hoffnung bleibt. Der Haushaltsplan, der laut Verfassung spätestens Mitte Dezember vom Parlament beschlossen sein muß, steht bis heute nicht fest. Die Situation konnte nur per Dekret gerettet werden. Daniel Ortega und Sergio Ramirez diskutieren noch mit den einzelnen Ressortministern, wo man jeweils das Messer ansetzen kann, ohne die Substanz zu treffen. Im Laufe des Januar soll der Budgetplan dann endlich im Parlament landen.

Mit den einschneidenden Einsparungen hofft die Regierung zumindest das Budgetdefizit in den Griff zu bekommen. Die Wirtschaftsprojektionen, die nach der Währungsreform im vergangenen Februar angestellt worden waren, mußten im Laufe des Jahres schon mehrmals korrigiert werden. Durch den Hurrikan „Joan“, der Ende Oktober weite Teile des Landes verwüstete, wurden sie gänzlich über den Haufen geworfen. Während Optimisten gehofft hatten, die Inflationsrate mit 1.300 Prozent im Rahmen des Vertretbaren zu halten, erreichte die akkumulierte Inflation nach offiziellen Angaben schließlich über 20.000 (zwanzigtausend) Prozent. Nach einer im Dezember veröffentlichen Studie des Lateinamerikanischen Wirtschaftsrates (CEPAL) der Vereinten Nationaen hat „Joan“ Schäden von nicht weniger als 840 Millionen Dollar hinterlassen; das entspricht den Exporteinnahmen von über vier Jahren auf dem gegenwärtigen Niveau oder 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. An Katastrophenhilfe sind nach inoffiziellen Schätzungen währenddessen nicht mehr als 50 Millionen Dollar in Geld und Sachwerten ins Land gekommen. Ein unabhängiges Expertenteam hat errechnet, daß Nicaragua bei einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent - die derzeit völlig utopisch sind - zehn Jahre brauchen würde, um das ökonomische Niveau von 1987 zu erreichen. Unter den gleichen Bedingungen könnte das Land in 17 Jahren (also im Jahre 2006) zur Vorkriegsposition von 1978 zurückkehren.

Banknoten überstempelt

Die galoppierende Inflation, die durch die Währungsrefrom des Vorjahres gebremst werden sollte, bereitet den Wirtschaftsplanern besonderes Kopfzerbrechen. Die Banken bieten derzeit für Zeiteinlagen je nach Bindungsdauer bis 75 Prozent Zinsen - im Monat. Die neuen Scheine aus der DDR, die noch kein Jahr im Umlauf stehen, reichen längst nicht mehr aus. Seit einigen Wochen zirkulieren Zehn-Cordoba -Noten, die von der Zentralbank überstempelt wurden und jetzt 10.000 Cordobas wert sind. Eine neue Währungsreform wird es nicht geben, versprach Daniel Ortega in seiner Neujahrsbotschaft - man wird sich also mit immer höheren Scheinen behelfen. Eine neuerliche Reform ohne stabilisierende flankierende Maßnahmen hätte auch gar keinen Sinn. Stabile Preise der Grundnahrungsmittel etwa müßten durch ausreichende Reserven in den staatlichen Lagern garantiert sein und die Wirtschaft durch Investitionsspritzen aufgeputscht werden. Nicaragua hat nicht genug Eigenreserven, um einen neuen Währungsschock derart abfedern zu können, und die Hilfe aus dem Ausland reicht nicht aus, das tägliche Überleben zu sichern.

So begann das neue Jahr gleich mit einem - nicht ganz unerwarteten - Preisschock am 4. Januar, als der offizielle Wechselkurs von 920:1 auf 2000:1 Dollar angehoben wurde. Davon profitieren in erster Linie die Produzenten von Exportgütern, deren Ernte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Damit verdoppelten sich automatisch auch die Treibstoffpreise, und der Bustarif in Managua stieg gar um das Zweihundertfache. Zwar ist der stark subventionierte öffentliche Transport in der Hauptstadt mit umgerechnet vier Pfennig immer noch der billigste des Kontinents, doch muß jetzt ein Arbeiter, der womöglich einmal umsteigen muß, gut ein Viertel seines Lohnes für Transport aufwenden. Dazu kommt die allgemeine Preisexplosion, die auf jede Benzinpreissteigerung folgt. Die nächste Lohnerhöhung kann diese verheerenden Auswirkungen auf die Kaufkraft gar nicht abfangen. Deswegen wird die Ausgabe von Lebensmittelpaketen an Staatsangestellte und Industriearbeiter beibehalten. Seit einem halben Jahr bekommt jeder Arbeiter eine Ration Reis, Bohnen und Zucker zugeteilt.

Industriedarwinismus durch Mindestlohn

Während sich die Regierung noch zu keiner kohärenten neuen Lohnpolitik durchringen konnte, haben verschiedene Organisationen ihre Modelle unterbreitet. Selbst der sandinistische Gewerkschaftsdachverband CST, der den Ruf loswerden will, ein reiner Transmissionsriemen für die Entscheidungen von oben zu sein, hat einen eigenen Vorschlag ausgearbeitet. Der Mindestlohn soll an den Verbraucherpreisindex angehängt werden und der Hälfte eines Basiswarenkorbs von 29 Produkten entsprechen. Die Väter dieses Vorschlags gehen davon aus, daß es in jeder Familie mindestens zwei Lohnempfänger gibt. Kaum eine realistische Annahme, wenn man die hohe Arbeitslosigkeit bedenkt und die Tatsache, daß alleinstehende Mütter, die ihre Kinder aus eigener Kraft durchbringen müssen, in Nicaragua die Regel und nicht die Ausnahme sind. Derzeit reicht der Mindestlohn nicht einmal für zehn Prozent dieses Warenkorbes. Das Arbeitsministerium tritt auch für Mindestlöhne ein, ist aber besonders um die Fachkräfte besorgt, deren Exodus in den vergangenen Monaten alarmierende Ausmaße angenommen hat. Die Gehälter der Spezialisten sollen aus der offiziellen Lohnskala ausgeklammert und frei vereinbar sein. Die Vereinigung der Unternehmer Nicaraguas (AENIC) ihrerseits, die sich aus den Direktoren der staatlichen und privaten Industriebetriebe zusammensetzt, bekennt sich auch zur Koppelung des Mindestlohns an den Warenkorb. Das würde für viele Unternehmen, die nur dank des niedrigen Lohnniveaus noch nicht zusammengebrochen sind, den Gnadenstoß bedeuten. Um diesen Industriedarwinismus etwas abzuschwächen, sollte die Regierung mit Subventionen in die Bresche springen.

Die Eliminierung unrentabler Industriebetriebe müßte rentablere Produktion zur Folge haben und der Wirtschaft insgesamt zugutekommen. Sollten allerdings die Arbeiter menschenwürdig entlohnt werden, müßten auch die Preise der erzeugten Güter wieder hinaufgesetzt und damit die Inflation weiter angeheizt werden. Daniel Ortega meinte daher in einem Interview mit dem sandinistischen Parteiorgan 'Barricada‘: „Wir können keine Währungsfondspolitik im strengen Sinn betreiben. Wir müssen eine eher heterodoxe Politik verfolgen, die uns erlaubt, wirtschaftliche Anpassungsmaßnahmen mit Subventionspolitik zu verbinden, damit die Wirtschaft überleben kann, bis Frieden herrscht.“

Die sandinistische Regierung will George Bush ein Friedensangebot unterbreiten, sobald dieer nach dem 20. Januar seine Amtsräume bezieht. Ein Abkommen über Sicherheitsaspekte und die endgültige Beerdigung der Contra wären die Voraussetzung für ein Ende der wirtschaftlichen Talfahrt. Aber schon eine Politik, die das Nicaragua-Problem ignoriert (die viel wahrscheinlicher ist), würde den Strategen in Managua etwas Spielraum verschaffen.

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