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Verhaftungswelle in Leipzig

Mindestens 190 DDR-BürgerInnen am Sonntag inhaftiert / Viele inzwischen wieder auf freiem Fuß / Spontane Fürbittgottesdienste in mehreren DDR-Städten / Erwartungsgemäß schweigen die Medien des Landes  ■  Von Martha Sandrock

Berlin (taz) - Erstmals seit den Massenverhaftungen in Ost -Berlin vor genau einem Jahr ist es im Zusammenhang mit offiziellen Demonstrationen zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in der DDR wieder zu einer Verhaftungswelle gekommen. In Leipzig sind am Sonntag mindestens 190 Personen, die an einer unabhängigen Demonstration teilgenommen hatten, festgenommen worden. Die meisten von ihnen wurden im Laufe des gestrigen Tages wieder freigelassen.

In Leipzig, Naumburg, Zwickau und Bautzen fanden unterdessen am Wochenende spontane Fürbittgottesdienste für die festgenommenen Mitglieder unabhängiger und kirchlicher Gruppen statt.Trotz des starken Sicherheitsaufgebotes waren am Sonntag rund 800 Personen dem Aufruf der „Initiative für demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft“ gefolgt und hatten nach der offiziellen „Kampfdemonstration“ zu Ehren von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht für Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit auf dem Leipziger Marktplatz demonstriert. Zugleich haben sie sich für die Freilassung der elf Mitglieder von kirchennahen Gruppen eingesetzt, die, wie berichtet, im Zusammenhang mit dem Demonstrationsaufruf wenige Tage zuvor verhaftet worden waren.

Nach Augenzeugenberichten sind die Ordnungskräfte zum Teil „brutal“ gegen die Demonstranten vorgegangen. Vergeblich hatte die Polizei sie aufgefordert, sich zu zerstreuen. Auch gestern gab es noch ein starkes Aufgebot an Sicherheitskräften in der Stadt.

Wie Vertreter von Leipziger Basisgruppen mitteilten, sind auch zwei der elf im Zusammenhang mit dem Demonstrationsaufruf Verhafteten wieder auf freiem Fuß, allerdings wurde ihnen untersagt, sich zu den Vorgängen zu äußern. Gegen sie läuft ein Ermittlungsverfahren. Nach welchem Paragraphen die Staatsanwaltschaft ermittelt, ist nicht bekannt.

Nach Informationen aus Leipzig befanden sich unter den Demonstranten nur wenige Ausreiseantragsteller, aber viele, so Vertreter von Basisgruppen, „normale Bürger“ sowie in Öko -, Friedens- und Menschrechtsgruppen Engagierte.

Augenzeugen beobachteten am Sonntag abend in Leipzig darüber hinaus, daß weitere Personen mit LKWs abtransportiert wurden. Sie befanden sich auf dem Weg zum Fürbittgottesdienst in der Leipziger Lucas-Kirche.

In einer Erklärung haben jetzt Leipziger Gruppen „aufs schärfste gegen die willkürlichen Verhaftungen protestiert“ und zur Solidarität aufgerufen. Über die Ereignisse berichteten die DDR-Medien erwar Fortsetzung auf Seite 2

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tungsgemäß nicht. Dennoch, so ist aus Leipzig zu hören, „bewegen die Vorgänge hier viele Menschen“. Gegen kritische Berichte der Westmedien sorgte unterdessen das FDJ-Organ 'Junge Welt‘ vor und zitierte u.a. einen 29jährigen Mann mit den Worten „Wir ehren hier große Deutsche, aber Westjournalisten pusten sich bestimmt wieder ein Sandkorn vor die Kamera, das alles verdecken soll“.

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Hertha Däubler-Gmelin hat unterdessen die Verantwortlichen in

der DDR aufgefordert, den Freiheitsbegriff Rosa Luxemburgs „auch in der DDR mit Leben zu füllen“.

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