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Winter in Prag

■ Die Opposition in der CSSR ist in viele Gruppen zersplittert - von Monarchisten bis zu Katholiken, Liberalen und Trotzkisten / Was sie eint, ist die staatliche Repression /Die Partei führt stur ihren Kampf gegen die 'feindlichen, antisozialistischen Elemente‘

Klaus Bachmann

Wenn Jiri Dienstbier, einst Sprecher der Charta 77, heute Mitglied des „Komitees für zu Unrecht Verfolgte“, tschechisch „VONS“ abgekürzt, Zuhause ist, hat er kaum eine ruhige Minute. Ständig läutet das Telefon - wenn es nicht gerade die Geheimpolizei abgeschaltet hat - es kommt Besuch, oder irgendwelche Ausländer, Menschenrechtler, Diplomaten oder Journalisten wollen mit ihm reden. An diesem Abend sind es drei Mitglieder der „Unabhängigen Friedensbewegung“, die Dienstbier heimsuchen. Sie kommen von einem Treffen mit Mitgliedern des offiziellen „Tschechoslowakischen Friedenskomitees“, von denen sie die Information erhalten haben, die Delegationen der sozialistischen Länder würden in diesen Tagen das Abschlußdokument der Wiener KSZE -Folgekonferenz unterzeichnen. Und darin sei all das garantiert, was die Regierung jahrelang als „Einmischung in innere Angelegenheiten“ abgelehnt habe. Das Dokument haben ihnen die offiziellen Friedenskämpfer gleich mitgegeben.

Für Dienstbier ein typisches Symptom für „Prestavba“, wie Perestroika auf Tschechisch heißt: „Die beschränkt sich darauf, daß man ganz unverbindlich Kontakte zur Opposition sucht. Die Regierung sucht Leute, die nicht direkt zur Opposition gehören, aber auch nicht durch Kollaboration diskreditiert sind.“ Einer davon ist der Wissenschaftler Zdenek Dienstbier, mit Jiri weder verwandt noch verschwägert hat er auch nie die Charta 77 unterschrieben. Dafür ist er seit dem 12.Dezember letzten Jahres Vorsitzender des offiziellen tschechoslowakischen „Öffentlichkeitskomitees für Menschenrechte und humanitäre Zusammenarbeit“. Zdenek Dienstbier hat nach 1968 seinen Posten als Rektor der Karls -Universität verloren, blieb aber Leiter des medizinischen Instituts. In den letzten Jahren war er Vorsitzender der tschechischen Sektion der „Ärzte gegen den Atomkrieg“. Gleich nach der Gründung des Menschenrechtskomitees erklärte er dem Parteiorgan 'Rude Pravo‘, er wolle sich auch um „Verletzungen der Menschenwürde“ kümmern.

Da dürfte es ihm weder an Arbeitsmangel noch an Konkurrenten mangeln, denn neben der Charta 77 beschäftigen sich noch weitere Oppositionsgruppen, die im Laufe der letzten Jahre und Monate entstanden sind, mit den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in der CSSR: Das „Komitee für die zu Unrecht Verfolgten“, ein „Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung“, das sich in Anlehnung an das polnische „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ vor allem um Arbeiter kümmert, die „tschechoslowakisch-polnische Solidarität“, deren Mitglieder beiderseits der Grenze Hungerstreiks für Inhaftierte durchführen, und die „Unabhängige Friedensbewegung“. Eins aber hält die verschiedenen Oppositionsgruppen trotz unterschiedlicher Auffassungen zusammen: Die Verfolgung durch die Behörden. Jiri Dienstbier: „Das ist vielleicht das Hauptverdienst der Charta 77, daß sie es geschafft hat, alle, vom nationalistischen Katholiken bis zum Trotzkisten alle, an einen Tisch zu bringen.“

Es rauscht im

oppositionellen Blätterwald

Die meisten derer, die sich oppositionell betätigen, haben die Charta unterschrieben, die meisten gehen dabei aber auch ihre eigenen Wege. In den letzten Jahren ist eine solche Anzahl von Untergrundzeitschriften entstanden, daß Dienstbier zugibt, er habe schon lange die Übersicht verloren. Neben den 'Informationen über die Charta‘, dem Bulletin der Charta 77, und ähnlichen Mitteilungen anderer Gruppen gibt es inzwischen eine Reihe niveauvoller, umfangreicher Monats- und Vierteljahreshefte, die den Vergleich mit ungarischen oder polnischen Publikationen nicht zu scheuen brauchen. „In Prag sind das zum Beispiel“, zählt Dienstbier auf, 'Obsah‘, zu Deutsch „Inhalt“, ein über 100 Seiten dickes Monatsheft, das Dienstbier mit herausgibt, oder die 'Revolver-Revue‘ des derzeitigen Charta-Sprechers Alexander Vondra. Im Gegensatz zum Namen ist das ein dickes, politisch-literarisches Kompendium mit Essays, Gedichten, Kommentaren, historischen Beiträgen, kurz: allem, was der offizielle Literaturmarkt nicht bietet. Den zu bereichern ist das Ziel von Jiri Ruml, einst Publizist des Prager Frühlings, der heute die 'Lidove Noviny‘ (Volkszeitung) herausgibt, eine Samisdat-Zeitung, die legal werden will (siehe Interview auf dieser Seite). Die Zeit für solche Gesten ist in der CSSR noch lange nicht reif. Dienstbier warnt denn auch davor, allzu große Erwartungen in Veränderungen von oben zu setzen: „Was hier geschieht, hängt ausschließlich von uns selbst ab.“ Die Menschen hätten aufgehört, auf die Partei zu hoffen: „Die 40jährigen, die die ganze sogenannte Normalisierung am eigenen Leib verspürt haben, sind ausgesprochen antikommunistisch geworden und die Jugend ist gänzlich unpolitisch.“ Das Desinteresse an der Politik geht bis in die Opposition hinein.

Petr Placak widerspricht auch gar nicht, wenn man seine Ansichten als „apolitisch“ einstuft. Placak ist der Kopf jener Gruppe, die sich „tschechische Kinder“ nennt und die bei der Demonstration am 21.August 1988, dem Jahrestag der sowjetischen Okkupation, erstmals aufgetreten ist. Anschließend hat sie ein Manifest herausgegeben, das bei manchen Kopfschütteln hervorgerufen hat. „Wir, die tschechischen Kinder“, heißt es darin, „erklären, daß die Krone des heiligen Vaclav, das böhmische Königreich, fortbesteht. Wir bereiten uns auf die Ankunft eines neuen Königs vor, das ist unser höchstes Ziel.“ Sind die „tschechischen Kinder“ Monarchisten? Petr Placak sagt weder ja noch nein. Aber das mit dem Königreich sei natürlich symbolisch zu verstehen. „Wir sind natürlich für Demokratie. Aber Demokratie ist etwas pragmatisches. Was wir wollen ist nicht nur Pragmatismus, wir wollen auch einen Mythos. Und das ist unser König.“ „Der König schützt die Schwachen vor den Starken“, heißt es im Manifest weiter, „er läßt nicht zu, daß eine Minderheit die Mehrheit beherrscht, er schützt die Bäume, die Natur, das Erbe.“ Durch Zensur und staatlich protegiertes kollektives Vergessen seien in den letzten 20 Jahren viele historische Themen aus dem Bewußtsein der Menschen verschwunden, beklagt Placak, der gerne Geschichte studiert hätte. Bewahren des Hergebrachten läge ihm besonders am Herzen, darunter auch der Umweltschutz. Mit Aufrufen zu den Demonstrationen am 21. und 28.August haben die „tschechischen Kinder“ von sich reden gemacht. Mehr sei's aber auch nicht gewesen, meint Alice Svobodova von der „Unabhängigen Friedensbewegung“. Sie schüttelt zweifelnd den Kopf: „Placak gibt an, seine Gruppe habe 50 Mitglieder, aber in Wirklichkeit ist das doch nur er und ein paar Freunde“, grinst sie. „Wir sprechen nicht von den tschechischen Kindern, wir sprechen nur von dem tschechischen Kind.“

Manche Interessen verbinden Placaks Gruppe und die „Unabhängige Friedensbewegung“, so der Umweltschutz und der Einsatz für inhaftierte Dissidenten. Da hört die Gemeinsamkeit aber auch schon auf. Beide allerdings nehmen die Behörden auf unterschiedliche Art und Weise ernst: Placak haben sie das Telefon abgestellt, die Friedensbewegung haben sie zum Gespräch geladen. Gleich nach der Gründung der Gruppe am 16.April 1988 erhielten sie eine Einladung vom offiziellen Friedenskomitee. Zu einer Einigung kam es zwar nicht, aber die Kontakte blieben. Sie dürften kaum herzlicher geworden sein durch die Tatsache, daß die Unabhängigen seit Dezember letzten Jahres drei jener 15 politischen Gefangenen stellen, mit denen sich VONS zur Zeit beschäftigt. Hinzu kommen noch zwei Kriegsdienstverweigerer, für die sich die „Unabhängige Friedensbewegung“ einsetzt. „Aber“, erklärt Alice Svobodova, „wir sind keine Pazifisten. Uns geht es um eine Verbesserung der Bedingungen für Wehrpflichtige und ihre Familien, um die Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes und die Demilitarisierung der Gesellschaft.“ Die Aktionen der Gruppe reichen von Unterschriftensammlungen für inhaftierte Verweigerer bis zu Umtauschaktionen für Kriegsspielzeug.

Verweigerer haben in der CSSR keine legale Möglichkeit, um den Dienst mit der Waffe herumzukommen. Nur für die Zeugen Jehovas gibt es eine Art „Gentlemen's Agreement“, erzählt Alice: „Zehn Jahre unter Tage, anschließend werden sie nicht mehr eingezogen. Aber gesetzlich verankert ist das nicht. Wer verweigert, muß damit rechnen, bis zu fünf Jahre hinter Gitter zu kommen. Und da Gefängnis rechtlich kein Ersatz für den Militärdienst ist, riskiert ein Verweigerer bei erneuter Ignorierung des Einberufungsbescheids erneut fünf Jahre. Auch wenn das bisher noch nicht der Fall war. Inzwischen sind aus den fünf Gründern 170 Mitglieder geworden, aber viele davon beschränken ihre Tätigkeit auf das Unterschreiben von Petitionen“, beklagt Alice Svobodova. Die Gesellschaft zeige wenig Interesse am Schicksal von Wehrpflichtigen. „Mein eigenes Interesse begann ja auch erst, als mein Mann einberufen wurde. Die Leute wollen ihre Ruhe.“

Die Regierung fürchtet

polnische Zustände

Unterstützung erhielten die Friedensaktivisten bisher vor allem von der katholischen Kirche. Nach der Gründung der Gruppe sandte ihnen Kardinal Tomasek einen Brief. Viel mehr als rhetorische Unterstützung haben Dissidenten von der Kirche nicht zu erwarten, warnt Vaclav Maly vor Vergleichen mit Polen: „Selbst die katholische Kirche, die die meisten Gläubigen aufzuweisen hat, hat nicht die Möglichkeiten, für Oppositionelle einzutreten, wie es die polnische Kirche hat. Undenkbar, hier in Kirchen politische Diskussionen abzuhalten oder illegale Literatur zu verkaufen. Der Staat respektiert die Kirchen nicht als Asyl oder geschützten Raum.“ Maly hat das am eigenen Leib erfahren, seit über zehn Jahren darf er nicht mehr sein Priesteramt ausüben. Jeder von einem Bischof geweihte Priester braucht die Genehmigung der staatlichen Aufsichtsbehörde zur Ausübung seines Amtes. Und die gilt dann nur für eine Pfarrei und kann jederzeit ohne Begründung und Einspruchsmöglichkeit entzogen werden. Es genügt, wenn ein Priester ohne Genehmigung eine Messe liest und er wandert in den Knast. Verletzung des Gesetzes über die staatliche Aufsicht über die Kirchen und Religionsgemeinschaften, heißt dann die offizielle Begründung.

„Die Regierung fürchtet sich hier vor polnischen Zuständen, besonders, seit im Vatikan ein Pole sitzt“, erklärt Maly und man hört, daß für ihn polnische Zustände so schrecklich nicht wären. Immerhin befindet er sich in einer etwas zweideutigen Lage: Offiziell ist er normaler Bürger, für die Kirche ist er weiterhin Priester. „Kirchenrechtlich ist mit mir alles in Ordnung“, lächelt er matt. „Alles in Ordnung“ heißt, der Bürger Maly unterliegt weiterhin dem Zölibat und muß täglich mit seiner Verhaftung rechungen, falls er seinen Beruf weiterhin ausübt. Dennoch gebe es keine „Untergrundkirche“, behauptet er, nur Priester, die ihr Amt ohne Erlaubnis in Privatwohnungen ausüben. Aber wie soll man das anders nennen, zumal noch hinzukommt, daß die rigide Zensur noch eine umfangreiche katholische Samisdat-Bewegung zum Blühen gebracht hat?

Auf diese Initiativen hat die Regierung immer die gleiche Antwort: Sie sorgt dafür, daß den Bürgerrechtlern nicht die Arbeit ausgeht. So wundert es auch nicht, daß der konservative katholische Priester Vaclav Maly, der in seiner kärglichen kleinen Wohnung westliche Theologen übersetzt, mit dem Trotzkisten Petr Uhl zusammenarbeitet, der zwischen seiner Frau, seinen Kindern und seiner Mutter in einer Drei -Zimmer-Wohnung voller Bücher sozialistische Pamphlete verfaßt. Beide, Maly und Uhl, haben die Charta unterzeichnet, beide organisieren in VONS Hilfe für inhaftierte Oppositionelle und witzeln dabei über ihre Weltanschauungen.

Der Druck von oben hat bisher immer dazu geführt, daß das Engagement für die gemeinsame Sache unter den Meinungsdifferenzen nicht gelitten hat. Wie überhaupt Polizei, Staatsanwälte und Gerichte immer wieder dafür sorgen, daß aus der Geschichte der Opposition eine Geschichte von Verhaftungen und Verfolgungen wird. „Dabei erfahren wir längst nicht von allen Fällen“, klagt Maly. Besonders von Verhaftungen außerhalb der großen Städte lägen oft nur sehr lückenhafte Informationen vor. Besonders am Herzen läge ihm zur Zeit ein Fall aus Brno (Brünn).

Anklagen wegen Aufwiegelung

und Beleidigung

Die Verhaftung von Petr Cebulka, Mitglied der Charta 77, VONS-Mitarbeiter und aktiv in nahezu allen Oppositionsgruppen gleichzeitig einschließlich der bekannten, vor zwei Jahren aufgelösten Jazzsektion, ist eine Art Nachwehe einer Affäre, die die Opposition der CSSR in den letzten Monaten ziemlich aufgewühlt hat. Cebulka drohen nämlich zehn Jahre Gefängnis für „Vorbereitung der Beleidigung von Staatsorganen“ unter anderem deshalb, weil er die Justiz für den Tod von Jiri Wonka verantwortlich gemacht hat. Wonka hatte 1986 versucht, als unabhängiger Kandidat an den Parlamentswahlen teilzunehmen. Daraufhin war er wegen „Aufwiegelung“ zu Gefängnis verurteilt worden und mußte sich nach seiner Entlassung der Polizeiaufsicht unterstellen. Vaclav Maly: „Das heißt, der Betreffende muß sich, so oft die Polizei es anordnet, auf der Wache melden. Das kann bis zu drei Mal pro Tag sein, ganz wie's der Polizei gefällt.“ Wonka aber war schwer krank und konnte seine Wohnung nicht verlassen, unter anderem deshalb, weil man ihm bei Folterungen im Gefängnis die Beine so zugerichtet hatte, daß er nicht mehr stehen konnte. Maly: „Daher weigerte er sich, der Meldepflicht nachzukommen und wurde wieder in Haft genommen. Aufgrund seiner schlechten Verfassung und seiner Verletzungen zog er sich eine Lungenembolie zu. Geschwächt durch einen Hungerstreik starb er am 26.April letzten Jahres im Gefängnis.

Seither häufen sich die Fälle, in denen Dissidenten vor Gericht stehen, weil sie öffentlich über den Fall Wonka geredet haben: Wonkas Bruder wurde im Gerichtsgebäude von Polizisten deshalb sogar öffentlich zusammengeschlagen. Und gegen Petr Cebulka läuft nun ein Verfahren wegen „versuchter Beleidigung“ (!) und Spekulation, womit der Verkauf selbstaufgenommener Musikkassetten gemeint ist. Vaclav Maly: „Am häufigsten haben wir es mit diesen beiden Paragraphen zu tun: Aufwiegelung und Beleidigung. Oft sind das so banale Sachen wie Leute, die im Wirtshaus über die Regierung geschimpft haben. Da hört ein Polizist zu und schon ist es passiert.“ In Dissidentenkreisen ist zu hören, die CSSR habe eine geradezu „südamerikanische Polizeidichte“: Von zehn Bürgern sei einer Polizist.

Dennoch ist die Opposition nicht nur mit dem Sammeln von Unterschriften und dem Verschicken von Päckchen an Inhaftierte beschäftigt. Die 'Prestavba‘ hat nämlich zu gehöriger Verunsicherung im Staatsapparat geführt, stellt Jiri Dienstbier fest. Zwar steht auf zahllosen Gebäuden noch die alte Aufschrift „Mit der Sowjetunion für alle Zeit“, doch wie man das beherzigen soll, darüber gehen die Ansichten auseinander.

„Bisher war immer klar, gegen die Opposition ist ganz im Sinne Moskaus, aber im Zeichen der Perestroika gibt es gewisse Widersprüche zwischen der Staatsmacht hier und der in Moskau. Am Anfang konnten sie sich noch sagen, der Gorbatschow hält das eh nicht durch. Aber jetzt wird immer deutlicher, daß der Bursche zäh ist. Und am Ende wären sie halt auch gern auf der Gewinnerseite“, erklärt Dienstbier. Im Alltag der Dissidenten führt das dazu, daß die Stadtverwaltung eine Demonstration genehmigt, die dann zwei Tage später auf Anweisung von „ganz oben“ doch noch verboten wird. Oder dazu, daß der Antikommunist Vaclav Maly ausgerechnet das Informationsbulletin der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Novosti‘ für die interessanteste Zeitung hält, die in Prag erscheint. Noch ist 'Sputnik‘ in der CSSR nicht verboten, aber Maly beobachtet, daß kritische sowjetische Filme mit Vorliebe in kleinen, engen Kinos und zu unmöglichen Zeiten gezeigt werden. Und unnötig zu sagen, daß die sowjetische Presse von 'Rude Pravo‘ und 'CTK‘ nur dann nachgedruckt wird, wenn sie auf der Linie der Prager Führung liegt.

Öde in Buchläden und Kiosken

Angesichts der Öde, die sich in Prags Buchhandlungen und Zeitschriftenständen ausbreitet, ist es kein Wunder, wenn die Leser verzweifelt zu den dünneren Druckerzeugnissen in kyrillisch greifen. Da 'Rude Pravo‘ und 'CTK‘ nur dann nachgedruckt wird, wenn sie auf der Linie der Prager Führung liegt. Da 'Rude Pravo‘ es nicht tut, sind einige Untergrundzeitschriften dazu übergegangen, die interessantesten Artikel der sowjetischen Presse ins Tschechische zu übersetzen. In der letzten Nummer der 'Kidove Novin‘ erschien zum Beispiel eine Diskussion in einer sowjetischen Zeitschrift zum Thema „Der Prager Frühling und die sowjetische Intervention“. Dennoch, so findet Alice Sabatova, seien viele Tschechen unter dem Eindruck von Husaks Normalisierung antisowjetisch geworden. Selbst in sowjetische Filme gingen viele nur deshalb nicht, weil sie eben sowjetisch seien.

Die „Gesellschaft für tschechoslowakisch-sowjetische Freundschaft“ ist eine Veranstaltung der Partei, das Gegenstück der Opposition heißt SPUSA, zu deutsch: Gesellschaft für Freundschaft mit den USA“. Und auch eine zweite oppositionelle Friedensgruppe gibt es, benannt nach John Lennon, den die Mitglieder als Friedensapostel mit Kranzniederlegungen zu seinem Todestag verehren. Manche dieser Gruppen sind wohl vor allem dank der Ignoranz und unnachgiebigen Haltung der Behörden oppositionell. Die aufgelöste Jazz-Sektion gibt's auch weiter, jetzt eben im Untergrund. Und weil die Behörden auf Bereicherung des Kulturlebens keinen Wert legen, spielt „Plastik-Rock“ in Privatwohnungen, unter anderem für die „Tschechischen Kinder“.

Der Aufschwung des Samisdat hat auch dazu geführt, daß nun ausführliche Diskussionen über Grundsätzliches möglich geworden sind. Bei aller Solidarität gegenüber „denen da oben“ beginnt man sich zu streiten. Und es ist die Zeit gekommen, Stellung zu beziehen, oder anders ausgedrückt: Manifeste zu veröffentlichen. Nach dem Manifest der tschechischen Kinder ist nun auch eine Gruppe an die Öffentlichkeit getreten, die sich „Bewegung für bürgerliche Freiheit“ nennt. Die umfangreiche Erklärung, die in Prager Samisdatzeitschriften und im Exil verbreitet wurde, ist ein Plädoyer für politischen und wirtschaftlichen Pluralismus. Zahlreiche Unterzeichner des Manifests sind Unterzeichner der Charta77 und in der demokratischen Opposition bekannte Köpfe. Ihre Plattform stellt die Forderung nach indirekter Demokratie, dem Recht auf Privatbesitz an Produktionsmitteln und einem Mehrparteiensystem dar, es ist - auch wenn das so explizit nicht herauskommt - ein liberal-demokratisches Programm. Und es plädiert für eine nationale Versöhnung.

Und obwohl es noch nicht lange kursiert, gibt es bereits eine erste ausführliche Kritik, die noch unveröffentlicht ist, aber in Abschriften bereits in Prag weitergereicht wird. Petr Uhl, Ex-Sprecher der Charta77 und Mitglied von VONS hat sie geschrieben. Uhl setzt sich darin sowohl mit der Erklärung der „Tschechischen Kinder“, als auch mit der „Bewegung für bürgerliche Freiheit“ auseinander. „Man könnte das 'Manifest der Kinder'“, meint er, „oberflächlich betrachtet für ein Amalgam aus Neuem, Witzigem und Ernsthaftem halten. Es mischt sich darin Konservatismus mit Antiautoritärem. Und obwohl ich wahrhaftig kein Monarchist bin, sind mir einige der Forderungen sympathisch.“ Gemeint ist der Wunsch, die künftige „königliche“ Regierung werde keinerlei politisches Programm brauchen, die Parteien sollten sich am besten in kulturelle und charitative Vereinigungen verwandel. Weniger sympathisch sind Uhl dagegen die Ansichten der „Bewegung“. Als Verfechter der direkten Demokratie will er Mitbestimmung nicht nur per Parlament, sondern auch am Arbeitsplatz, wo immer es eben geht. Damit steht er in der engen Nische derer, die zwar das „derzeitig herrschende bürokratische System“ (Uhl) abschaffen wollen, sich gleichwohl aber als Sozialisten verstehen. Seinen Gegnern wirft er Fantasielosigkeit vor, wenn sie Sozialismus auf den „real existierenden Sozialismus“ reduzieren und damit ausschließen, daß auch ein anderer möglich sei. Zugleich grenzt er sich von den Reformkommunisten von 1968 ab, die Demokratisierung des „bürokratischen Systems“ sei eine Illusion. Solche Ansichten sind in der Opposition kaum mehrheitsfähig, meint auch Jiri Ruml.

Die meisten Untergrundzeitungen stehen, wenn sie überhaupt einen expliziten politischen Standpunkt haben, irgendwo zwischen demokratischen Konservativen und linken Liberalen. Selbst die Reformkommunisten spielten keine so große Rolle mehr, meint Jiri Dienstbier, viele seien im Exil, schon ziemlich alt oder bereits tot. „Es geht nicht darum, welche Rolle die Partei heute noch spielen kann“, meint Dienstbier. „Es geht um eine freiere Gesellschaft.“

Volle Regale in

Lebensmittelgeschäften

Der Weg dahin ist steinig, die Opposition auf sich selbst gestellt. Jiri Ruml: Auf die Arbeiter kann man nicht rechnen, denen geht es gut, sie verdienen ausgezeichnet, zu Essen gibts auch genug, die Läden sind voll. Die Partei hat nach 1968 eine Art Pakt mit den Arbeitern geschlossen: Wir sorgen dafür, daß der Kühlschrank voll ist, dafür gebt ihr Ruhe. Und bis jetzt hält der Pakt.“ Unruhe gebe es allenfalls bei den Studenten. Trotzdem ist Ruml sicher: „Früher oder später wird es auch hier einen „Runden Tisch“ wie in Polen geben. Kann sein, daß an dem dann nicht Vaclav Havel sitzen wird, aber wahrscheinlich auch nicht Jakes. Sonst wird doch aus dieser ganzen Perestroika hier nichts.“

Obwohl es sowohl in der Partei als auch in der Charta Stimmen für eine „nationale Verständigung“ gegeben hat, deutet wenig darauf hin, daß sie zustandekommt. Nicht nur in den Massendedien gibt die Partei deutlich zu verstehen, daß sie für die Opposition nur Knüppel und Verachtung übrig hat. Auch die vertraulichen Informationen der Partei für Funktionäre sprechen da eine deutliche Sprache: „Der Kampf gegen die 'Desinformation‘ durch die „feindlichen, antisozialistischen Elemente“ sei nicht nur eine Sache der Polizei, sondern auch der Medien, der Parteimitglieder und aller ordentlichen Bürger“, hieß es in einer vertraulichen Anweisung des ZK, die letztes Jahr an die Öffentlichkeit kam.

Was darunter zu verstehen ist, haben die Massenmedien und die in ihnen arbeitenden „ordentlichen Bürger“ vor der Gedenkdemonstration für Jan Palach am 15.Januar deutlich gemacht. Die Abendzeitung 'Abendliches Prag‘ brachte einen Kommentar zu der geplanten Demonstratin unter dem Titel: „Wohin gehst Du, oh Charta?“ Darin die Behauptung, es sei „allgemein bekannt, daß Vaclav Havel während des Krieges in Lausanne ein geheimes Gestapo-Büro geleitet habe. Bei Kriegsende war Havel gerade zehn Jahre alt. Für Jiri Ruml, der selbst schon Opfer solcher Verdrehungen wurde, hat der Unsinn Methode: „Die tschechische Exilregierung hatte einen Agenten in der Gestapo, der zusammen mit einem Onkel von Havel in der Schweiz verhaftet wurde. Die Geheimpolizei hat das ein bißchen frisiert und an einen „ihrer“ Journalisten weitergegeben. Und noch bevor Havel überhaupt dazukommt, sich dazu zu äußern, wird es dann von 'TASS‘ zitiert und wiederum von 'Rude Pravo‘ übernommen. Und am Ende sieht es dann wirklich so aus, als wäre es eine „allgemein bekannte Tatsache“, auch wenn kein Wort stimmt. Daß sich an diesen Methoden, unbequeme Bürger zu behandeln, in nächster Zeit etwas ändern wird, glaubt Ruml allerdings nicht: „Die Leute, die jetzt in der Partei das Sagen haben, haben gar nicht das Format, hier eine Wende einzuleiten. Das sind ja alles Leute, die durch die „Normalisierung“ an die Macht gekommen sind. Die müßten sich ja selbst in Frage stellen.“ Einen Reformerflügel in der Partei gebe es praktisch nicht.

Ein Blick in die Prager Zeitungskioske scheint Ruml recht zu geben: Da gibt es die 'Rude Pravo‘, das Organ der Partei und einige totlangweilige Wochenzeitungen, alle herausgegeben entweder von einem Ministerium oder dem ZK selbst. Rechts davon stehen Blätter wie 'Tribuna‘, die Plattform des Bilak-Flügels oder 'Prubeh‘, das der Geheimpolizei nahesteht. Auf der anderen Seite herrscht gähnende Leere. Ein Reformerblatt wie die Warschauer 'Polityka‘ oder entsprechende Parteiblätter in Ungarn fehlt völlig. Etwas interessantere Publikationen erscheinen außerhalb der Partei und sind sofort vergriffen. Sie werden zum Beispiel vom Schriftstellerverband, den Naturschützern oder dem Schauspielerverband herausgegeben. Da bleibt dann wirklich nur der Griff zu 'Ogoniok‘ oder 'Moskowskie Novosti‘.

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