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Als Jungfrauen zur Wahlurne schritten...

■ ...versäumten es die „Bremer Nachrichten“ nicht, diesen neuartigen Vorgang mit äußerstem Wohlwollen zu reportieren / Der Bericht erschien am 20.1.1919 - heute vor siebzig Jahren / Die Wahlgänge erfolgten nach Geschlechtern getrennt

Als Bremer Fräuleins und Frauen vor siebzig Jahren erstmals einen Stimmzettel in einer staatlichen Wahlurne unterbringen durften, war ein Reporter der „Bremer Nachrichten“ mitten dabei. Wir erlauben uns, auf seine „Live„-Berichterstattung zurückzugreifen, um unseren LeserInnen ein Stimmungsbild von den nach Geschlechtern getrennt aufgestellten Wahlurnen anno 1919 zu vermitteln.

Zuvor sei noch ein kleiner Rückblick gestattet: In Bremen herrschten in jenem Januar 1919 die November-Revolutionäre, die ver

geblich versucht hatten, das allgemeine Frauen-Stimmrecht zu verhindern. Der oberste Bremer Arbeiterrat, der 1. Vorsitzende der USPD (Unabhängige Sozialdemokraten) Alfred Henke, hatte argumentiert: „Die Ausdehnung des Wahlrechts, besonders die Ausübung desselben durch die Frauen, ist in revolutionären Zeiten gefährlich, da die Frauen in ihrer großen Mehrheit politisch unorganisiert und von dem Gespenst des Bolschewismus eingeschüchtert sind.“

Gekämpft hatte in Bremen für das Frauenwahlrecht der „Verein für Frauenstimmrecht“. Dieser

hatte sich 1904 gegründet, aber 1914 zerstritten an der Frage, ob er für ein allgemeines Wahlrecht der Frauen oder ein Klassenwahlrecht der „Damen“ eintreten sollte.

Die Quotierung war damals noch nicht erfunden, denoch achteten die Parteien tunlichst darauf, auf den Plätzen zwei oder spätestens drei ein weibliches Parteimitglied zu plazieren. In Wahlanzeigen warnte die DDP vor diesen Praktiken der Deutschnationalen (vgl. nebenstehende Illustration).

Nun aber hat das Wort der Reporter von der Konkurrenz:

„Bremer Nachrichten“:

„An diesem Sonntag, 19. Januar, hat zum ersten Male wieder der Wahlgedanke das ganze deutsche Volk beseelt und ihm die erste gemeinsame Gelegenheit geboten, am Wiederaufbau des Vaterlandes mitzuwirken. Wer mit großer Seele dabei war, erlebte einen großen Tag. Das galt vor allem von unseren Frauen, von der 20jährigen Jungfrau bis zum alten

Großmütterlein, die zum ersten Male den Stimmzettel in die Hand nehmen und zur Wahlurne schreiten durften. Wie rasch ist bei diesen in Deutschlands schwerer Zeit mit Haushaltssorgen so viel Geplagten der vollbewußte Wille zur Mitarbeit am Aufbau zur Selbstverständlichkeit geworden; wie ernst haben sie es nach den überall gemachten Beobachtungen mit ihrer Pflicht genommen! Und auch die jüngsten Wäh

ler, die ihrer gesetzlichen Mündigkeit noch entgegengehen, brachten es mit offen betonter Wichtigkeit ihren Stimmzettel...

Der große Wahlapparat in der Stadt war in musterhaft bequemer Weise angelegt, so daß die Ausübung der Wahlpflicht wohl nirgends für die Wähler mit viel Mühe und Zeitverlust verknüpft sein konnte. Das Wahlgeschäft setzte in den getrennten Räumen der Männer und Frauen schon morgens gleich nach seiner Eröffnung lebhaft ein, und ein mildes, trockenes Wetter, wie es diesen Sonntag über anhielt, kam ihm bestens zu statten. In jedem Wahlbureau gab es eine größere Schar älterer und jüngerer Hilfskräfte beiderlei Geschlechts, die mit Eifer den Interessen ihrer Partei dienten. Unverdrosssen sah man bis zuletzt die Werbenden und Heranholenden auf den Beinen.

In der allgemein sehr starken Wahlbeteiligung brachten in den Wahlbezirken der Stadt die Stimmen der Frauen ein nicht unerhebliches Übergewicht über die der Männer...

Als der Wahltag zur Neige ging, spannte sich im Westen ein zart leuchtendes Abendrot verklärend hinter die bläulich sich verdunkelnde Silhouette der Stadt. Möge ihn eine Morgenröte folgen, die unser ganzes Volk neu und kräftig wiederaufleben läßt.

B.D./ Bremer Nachrichten vom 20.1.1919

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