Töne, Steine, Scherben vor dem ICC

■ Gro0ßdemonstration gegen die "Republikaner" / Mehr als 100 Verletzte nach Knüppeleinsatz und Steinhagel

Um zehn Uhr abends ist alles vorbei. Müllmänner fegen Flugblätter und ausgebrannte Knallkörper von der nassen Straße, zwei Glaser montieren im gelben Laternenlicht neue Scheiben in ein Juweliergeschäft. Die Polizei hat ihre Truppen samt Wasserwerfern und Tränengas abgezogen und die „Republikaner“ gehen nach Hause. An einigen Stellen liegen lose Pflastersteine auf dem Asphalt, zerrissene CDU-Plakate biegen sich am Straßenrand, und ein vereinzelter Schuh liegt in der Gosse. Ein paar Meter weiter beklagt ein Autohausbesitzer die zersplitterte Windschutzscheibe seines Porsche-Rennwagens. Es hat etwas stattgefunden in der Gegend um das Internationale Congress Centrum.

Wie das Lied genau hieß, das die Blaskapelle „IG Blech“ auf dem Demonstrationszug der zehntausend zum Kongreßzentrum gerade spielte, wußte der Posaunist nicht mehr: „La Fugaratschia oder so. Jedenfalls ist das aus dem Fellini -Film.“ Das schräge Stück ließ einen mißtrauisch werden; bei Fellini passieren ja immer so komische Sachen. Aber dann kam gleich die Jazz-Version von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, und alles war wieder gut, weil man sich fühlte wie auf einem sozialdemokratischen Sommerfest in Schlewig -Holstein. Dann sangen ein paar die Internationale, jedenfalls den Refrain, mehr konnten sie nicht, und ein paar Minuten später ertönten die Signale: Lalülala. Ein paar wollten auf die andere Straßenseite, näher ran ans ICC, an den meterhohen Gittern und den Polizisten vorbei. Ruckzuck, Knüppel frei, dallidalli, Steinewerfen. Es ist 19.07 Uhr: Tränengasgranaten werden abgefeuert - fünfzehn Hülsen finden sich hinterher auf der Straße -, Panik bricht aus. Die Menge rennt kreuz und quer durch die Gegend, eine Frau, die vom Pulk an die Gitter gedrückt wird, schreit sich vor Platzangst die Seele aus dem Leib. Husten, Röcheln, Zitronensaft-Einsatz. Durch den ätzenden Nebel fliegen Steine. Sie treffen die Vertreter der Ordnungsmacht.

Hin und her, die Straße rauf und runter laufen die DemonstrantInnen. Es kehrt wieder Ruhe ein, als die Polizei sich etwas zurückzieht. Eine Stunde später wird - warum, weiß nur der Einsatzleiter - die „Einsatzbereitschaft für besondere Lagen und einsatzbezogenes Training“ (EbLT) losgelassen. Sie knüppeln junge Leute von Baucontainern herunter. Ein Wasserwerfer fährt auf und spritzt los; dann folgt wieder ein Steinhagel und die anschließende Jagd auf DemonstrantInnen. Auf dem Fluchtweg klirren die Scheiben des Juweliergeschäftes, einer Fahrschule, zweier Autohäuser und eines Immobiliengeschäftes - womit dem internationalen Kapital wieder ein schwerer Versicherungsschaden zugefügt wurde.

Etwa 300 DemonstrantInnen sind mit SPD-Eintrittskarten ins ICC eingedrungen. Die feindlichen Lager trennt nur eine dünne Stellwand, links die Sozialdemokraten, rechts die REPs. Es kommt immer wieder zu Rangeleien mit Ordnern und Polizisten, das Chaos ist riesengroß. Wer ist Sozialdemokrat, wer Demonstrant, wer „Republikaner“, wer Zivilbulle? Die verschiedenen Gruppen sehen sich alle sehr ähnlich.

Um 20.05 Uhr wird draußen ein 15jähriger Schüler festgenommen. Er sei von den Beamten, die ihn abführten, in den Unterleib getreten worden, berichtete er gestern. Als er sich beim Einsatzleiter beschwerte, hätte der gleich noch mal zugelangt. Die Eltern des Jungen wurden nicht informiert. Als sie im Fernsehen sahen, was am ICC geschehen war, und ihr Sohn um Mitternacht immer noch nicht zu Hause war, machten sie sich auf die Suche. Nach einer Odyssee teilte ihnen ein Polizeibeamter mit, ihr Sohn sei ein Steinewerfer und werde am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt. Wegen der lächerlichen Beweislage konnten die Eltern ihren Sohn - nach Intervention ihres Anwalts - mit nach Hause nehmen. Das war um zwei Uhr nachts. Der Vater, ein Lehrer, zur taz: „Was die Schüler da auf der Demo erlebt haben, können wir in zehn Stunden Unterricht nicht aufarbeiten.“

Es ist etwas vorgefallen am ICC. 95 verletzte Polizisten und mindestens ebenso viele verdroschene DemonstrantInnen sind nur eine sehr vordergründige Bilanz.

Claus Christian Malzahn