: Ich, Über-Ich, Es und die Warenwelt
■ Heute abend wird die Operette „Der Turm“ von Detlev Heusinger nach Peter Weiss am Goethetheater uraufgeführt. Die taz sprach mit dem Komponisten über seine Auffassung des Stücks
taz: Peter Weiss‘ Stück „Der Turm“ ist ein Stück der Selbstbefreiung. Wovon?
Detlev Heusinger: Der Turm ist Symbol für pathogene Familienverhältnisse, aber auch für gesellschaftliche Verhältnisse. Es gibt da eine Mikrostruktur der Familie, die die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelt.
taz: Der Ausbruch aus dem Turm, der am Ende steht, wird ja vorher in der Familie, im Zirkus öffentlich eingeübt.
Heusinger: Damals hat Peter Weiss ja die These vertreten, daß über Kunstausübung Befreiung erfolgen könne, da das immer etwas mit Selbstanalyse, mit Insichhineinhorchen zu tun hat.
Pablo, der Artist, findet über die Ausübung seiner Kunst (Entfesselungskünstler) zu sich selbst.
taz: Peter Weiss hat mit seinem späteren Lebensweg auch gezeigt, daß er den Ansatz im „Turm“ für nicht ausreichend hält. Warum greifen Sie diesen, als Illusion erkannten Weg, wieder auf?
Heusinger: Ich glaube, in diesem Stück ist zwischen den Zeilen all das, was sich ab dem de Sade/Marat hat entfalten können. Ich glaube, es ist viel vorteilhafter, gesellschaftliche Verhältnisse an den Ursprüngen zu zeigen, als Agitprop-Stücke zu machen.
Die haben sich abgenutzt. Gerade bei der jüngeren Generation erzeugt direkte politische Propa
ganda Ablehnung. Sie hat etwas Oberlehrerhaftes, Beckmesserisches.
taz: Diese Begrenzung des Stückes auf enge familiäre Räume - kommt das nicht vielleicht doch der aktuellen Tendenz zur Innerlichkeit, zur Nabelschau entgegen?
Heusinger: Eine new wave oder new age-Innerlichkeit ist es überhaupt nicht. Im „Turm“ wird - im Unterschied zum „Vietnamdiskurs“ oder dem „Lusitanischen Popanz“ - die politische Situation nicht direkt reflektiert. Es ist wie in einem Stück, das unter Zensur entstanden ist.
Das finde ich an dem Stück so spannend: daß man die Auflösung von Hierarchie und Machtstrukturen nur über Erkenntnisprozesse erreichen kann. Das klingt jetzt irgendwie ambitioniert. Das kommt doch so sicherlich nicht in die Zeitung.
taz: Hmhm, soll ich jetzt alles Ambitionierte wieder runterschrauben?
Heusinger: Naja, es ist schon etwas Wahres dran. In diesem Stück wird auch der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sichtbar. Arbeitsteilung, entfremdete Arbeit - alles vorhanden. Im „Turm“ gibt es ganz skurrile Formen von Arbeitswelt. Der Direktor hat scheinbar die meiste Macht, aber hinter ihm steht der Zauberer als Ausdruck für - ich will nicht sagen das kapitalistische System, aber für gesell
schaftliche Machtverhältnisse. Aber er steht auch für das Über-Ich.
Das ist das Schöne an dem Text, daß alles letztlich changierend ist. Man findet in ihm Warenwelt-Strukturen und psychologische Modelle: Ich, Über-Ich, Es.
Dieses Moment von Arbeitsteilung zeigt sich deutlich in einer Szene: Pablo wird verwehrt, den anderen bei der Arbeit zuzuschauen. „Jeder arbeitet hier für sich allein.“ Sähe er zu, könnte er vielleicht etwas über den Mechanismus des Dressurakts erkennen.
taz: Wenn das Stück sprachlich so komprimiert ist, geht durch die musikalische Gestaltung nicht der abstrakt bleibende gesellschaftskritische Bezug verloren? In der Oper versteht man den Text regelmäßig nicht. Kommt durch die Musik nicht zwangsläufig eine Reduktion aufs Emotional -Individuelle zustande?
Heusinger: Es gibt Momente in diesem Stück, in denen die Gesangsstimme gar nicht verstanden werden soll, Ensembles, die sich transparent sein, sondern Irritation auslösen sollen.
An solchen Stellen transportiert sich der Inhalt über den Gestus der Musik.
taz: Das Bild des Turmes könnte auch für eine Form moderner Kunst stehen, die sich in ihrer eigenen Welt abkapselt, Sackgassen
einschlägt. Sehen Sie das Problem auch für sich selbst als Komponist moderner Musik?
Heusinger: In dem Moment, wo ich Musik schreibe, denke ich daran nicht. Sollte ich daran denken, wäre ich ganz schnell in Gefahr, mich zu verkaufen. Wenn man als Komponist sein Handwerkszeug gelernt hat, weiß man schon, wie man sich anbiedern kann. Das ist für mich nichts Erstrebenswertes. Nichtsdestotrotz leide ich natürlich darunter, daß ich all mein Können, all mein Wissen, das wenige, das ich habe, zur Blüte gebracht - wie sagt man jetzt dazu? - haben könnte, daß gerade das auf so viel Mißverständnisse stößt, daß es eines vielmaligen Hörens bedarf, um meine Musik nachvollziehen zu können. Ein Großteil des Publikums wird sicher mehrmals zuhören müssen, um zu verstehen, was ich sagen will. Die Musik enthält viele unterschiedliche Schichten, die man zusammen erst bei mehrmaligem Hören erkennt.
taz: Für mich waren die verwendeten Zitate und Anklänge eine Hilfe.
Heusinger: Ich spiele doch mit bestimmten Chiffren, die ich als Zeichen einsetze. Da nehme ich durchaus verändertes Material, Beethoven, Tschaikowskij. Das steht für das Hereinbrechen von Außenwelt in den Turm.
taz: Bei Peter Weiss gibt es nichts zu lachen. Trotz des bedeu
tungsschwangeren Textes haben Sie für die Abschlußszene die Überschrift „Frikassee“ gewählt. Der Fachmann denkt an „Quod libet“, der Opernbesucher an Hackfleisch.
Heusinger: Ich habe das bewußt gemacht. Hackfleisch als Assoziation ist durchaus gewollt. Es bezieht sich auf das Kompositionsprinzip des Zerhackens, Zerstückelns - Pablo ist durchaus in der Gefahr der Selbstzerstückelung. Es bezieht sich aber auch auf die Gefahr, die in diesem Ausbruch liegt. Pablo kann auch abstürzen.
Aber Sie tun dem Text auch Unrecht. Es gibt sehr komische Elemente. Aber es wird ein Lachen erzeugt, das im Halse stecken bleibt.
taz: Vielen Dank. Haben Sie noch was, das Sie für wichtig halten?
Heusinger: Ja. Mich wundert, daß Sie einen Aspekt nicht angesprochen haben, den der Sexualität.
taz: Fand ich eher bedrückend.
Heusinger: Für mich ist dieses Stück auch eher eine Aufarbeitung von verdrängter Sexualität. Die Befreiung findet für mich in diesem Stück - und da habe ich Peter Weiss für mich verändert - über ausgelebte Sexualität statt.
(niemandem zuzuordnende Stimme aus dem Off): Au ja, befreite Sexualität. (Befreites Lachen).
Interview: Mario Nitsche
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