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Ergründung eines tödlichen Sturzes

■ Vor dem Landgericht wird versucht zu ermitteln, warum eine junge Frau in Kreuzberg aus dem Fenster eines 64jährigen Mannes sprang und starb

„Sie wirkte außerordentlich hilflos und erschien mir zunehmend verwirrt“, beschrieb gestern der 26jährige Ulli H. als Zeuge vor Gericht, wie er die 20jährige Berlin-Touristin Debra Kroeger wenige Stunden vor ihrem Tod wahrgenommen hatte. Debra Kroeger war in den frühen Morgenstunden des 2. August 1988 in der Schlesischen Straße 25 in Kreuzberg aus dem Wohnzimmerfensters des 64jährigen Rentners Walter Z. im dritten Stock gesprungen. Walter Z., der wie berichtet seit vergangenem Mittwoch wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge vor der 29. Strafkammer des Landgerichts steht, bestreitet jegliche Schuld am Tod der Touristin.

Die Halbamerikanerin Debra war mit einer amerikanischen Studentengruppe zum ersten Mal in ihrem Leben in Berlin. Am Abend des 1. August hatte sie sich jedoch mit ihrer deutschen Cousine Crissi und deren Bekannten Ulli H. und Stefan H. zu einem Kneipenbummel getroffen. Spät nachts waren sie in der Disko „Sox“ in der Oranienstraße gelandet, wo Debra aufs Klo gegangen und von dort nicht mehr zurückgekommen war. Die drei hatten eine Weile nach ihr gesucht und waren dann ohne sie weitergezogen.

Die 22jährige Hotelangestellte Crissi und der 26jährige Arbeitslose Ulli H. wurden gestern vom Gericht über den Verlauf des Abends mit Debra befragt. Während Crissi an ihrer Cousine nur eine - wenn auch erhebliche - Trunkenheit aufgrund diverser Biere und Tequilas aufgefallen war, sprach Ulli H. von einer zunehmenden Verwirrung Debras, die unmöglich nur vom Alkohol habe herrühren können. „Scheinbar hat das außer mir aber keiner wahrgenommen“, sagte Ulli und schob erklärend hinterher, „es hat sich keiner wesentlich um sie gekümmert“. Er selbst habe sich nicht um Debra gekümmert, weil er mit ihr nichts zu tun gehabt und sie ihn auch nicht interessiert habe.

Debra habe so ausgesehen, als ob sie gekifft habe und ihr die Mischung von Haschisch und Alkohol nicht bekommen sei. „Sie wirkte außerordentlich hilflos, aufgrund der für sie fremden Situation.“ Crissi verfolgte Ullis Vernehmung auf der Zuschauerbank mit gesenktem Kopf.

Auch gestern war Walter Z. auf erneute Nachfrage des Gerichts dabei geblieben, daß er Debra nichts angetan habe. Aus keinem anderen Grunde als aus reiner Menschenliebe, so der Angeklagte, habe er das auf dem Gehweg der Oranienstraße schlafende, betrunkene Mädchen mit nach Hause genommen, damit es seinen Rausch ausschlafe. Auf der Suche nach einer Erklärung für Debras Sprung aus dem Fenster - sie war voll bekleidet und wies keine Spuren eines körperlichen Angriffs auf - wurde gestern auch die orangefarbene Damenreizwäsche des Rentners erneut zum Gegenstand der Erörterung.

Aber Richter Heinzes These, die betrunkene Amerikanerin habe „einen Schock bekommen, als der liebe Opa plötzlich in so einem Ding ankam“ (gemeint sind die Dessous, d.Red.), wurde von Walter Z. wieder entschieden zurückgewiesen: Er habe die Reizwäsche nur ausnahmsweise für einen Striptease in der Oranienbar getragen und keineswegs zu seiner eigenen Stimulation. Und die Bemerkung Heinzes, „warum haben Sie dann mit dem komischen Ding im Bett gelegen? Das macht doch kein Mensch“, wurde von Z. mit Stillschweigen beantwortet.

Am Mittwoch soll das Urteil verkündet werden.

plu

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