: Mailand erstickt in Smog und Tatenlosigkeit
Seit Wochen Smogalarm in der italienischen Industriemetropole / Meßwerte übersteigen die gesetzliche Höchstgrenze um das Doppelte / Forderung des grünen Umweltdezernenten nach Gegenmaßnahmen ohne Folgen / Schornsteine qualmen weiter ■ Aus Mailand Werner Raith
Seit mehr als einem Jahr hat man in Mailand nur ein paar Millimeter Regen gemessen. Nebel umhüllt die Eindreiviertelmillionenstadt seit Wochen. Eine Inversionswetterlage ohne Luftzug - hält eine dichte Staubwolke über der Stadt. Zwei Drittel der Mailänder tragen bereits Schutzmasken, Polizisten weigern sich, ihren Mundfilter zu lüften und Auskunft zu geben, in Schulklassen herrscht, der Masken wegen, nur noch unverständliches Gemurmel. An den Häuserwänden kleben Plakate mit Aufrufen, die Heizungen zu drosseln, Radio und Fernsehen geben „Hinweise zum Schutz der Gesundheit“ durch. An der Peripherie weisen Polizisten alle Autos mit Nicht-Mailänder Kennzeichen ab.
In der Innenstadt ist dennoch kaum etwas von Besserung zu spüren, die Atemnot und mitunter auch das Jucken auf der Haut nehmen nur noch diejenigen wahr, die nicht ständig in Mailand leben. „Mein Gekrächze“, sagt der Portier im „Hotel dei Fiori“ an der Ausfahrt zur „Blumenautobahn“ Richtung Riviera, „kriege ich schon seit einem halben Jahr nicht los.“ Der Kioskinhaber hinter der Scala hebt die Schulter: „Ich fühle mich jeden Tag sauschlecht, wie soll ich wissen, ob heute besonders viel Dreck in der Luft liegt.“
Mailand ist Spitze...
Auch in der verkehrsfreien Zone am Dom zeigen die Andenkenverkäufer Pusteln an der Haut vor: „Der Dreck kommt von oben und unten, der kriecht auch die gesperrten Straßen entlang - und das meiste kommt sowieso von den Schloten der Fabriken.“
Eine volle Woche - vom 21. bis 29.Januar - haben die Schwefel- und Natriumbikarbonatwerte die gesetzlich erlaubte Höchstgrenze von 250 beziehungsweise 200 Mikrogramm pro Kubikmeter um das Doppelte überschritten. Ein vom sozialistischen Bürgermeister Paolo Pillitteri angestimmtes Siegesgeschrei Ende Januar erwies sich als voreilig: Die gesunkenen Meßwerte, die der Stadtregent auf seine „energischen Appelle“ zurückführte, das Auto zu Hause zu lassen und den Schmutzausstoß der Fabriken drastisch zu drosseln, waren lediglich auf die Sonntagsruhe zurückzuführen. Am Montag war alles wieder wie zuvor.
Die Mailänder Administration gibt sich bis heute genauso überrascht wie die Regierung in Rom - und wie schon vor einem Jahr, als die Weltgesundheitsorganisation WHO Mailand mit durchschnittlichen 185 Mikrogramm pro Kubikmeter Schadstoff als „einsamen Weltspitzenreiter“ aufführte (Paris, als zweite, kam auf 83, Peking auf 81, Sydney 61, Tokyo auf 60, London auf 58 und New York auf 52 Mikrogramm); Bürgermeister Pillitteri keilte: „Das sind Meßwerte aus den sechziger Jahren.“ Offenbar nicht, wie die neue Entwicklung zeigt.
Auch die Medien geben sich ausnahmslos überrascht. Obwohl bereits seit Wochen beunruhigende Werte bekannt wurden, hatten die Zeitungen nicht einmal für Fotomaterial gesorgt. Als „Smog„-Bild verwendeten sie allesamt - vom Mailänder 'Corriere della sera‘ bis zu 'il manifesto‘ - dieselben Agenturbilder: ein Gaskontrollwagen und eine Auspuffmeßstelle. Entsprechend gleichgültig reagieren die Mailänder denn auch auf die Verantwortlichkeitsappelle. Gut, die Heizung wird niedriger gestellt - aber nur zu Hause, im Büro mag's Papa weiterhin warm. Aufs Auto verzichtet niemand. „Verdammt“, fluchten Bürger in die Fernsehkameras, „wieso soll ich zu Fuß oder per Fahrrad losziehen, wenn draußen alles voller Giftgase ist?“ Daß die Gase von den Autos kommen, gilt hier eher als pervertierte Demagogie: Der Smog sei nun mal da, und da sei man im Auto sicherer als „draußen“. Und daß die Betriebe rings um die Stadt - Mailand ist von einem hermetischen Industriegürtel eingeschlossen ihre Schlote nicht abstellen, regt schon fast keinen mehr auf: Arbeitsplatzverlust und Konkurrenzverfall sind noch allemal zugkräftige Argumente. Und ansonsten ist halt das Wetter schuld, das man seit 1813 nicht mehr derart unwinterlich erlebt hat, sagen jedenfalls die Manager.
Grüner Stadtrat verzweifelt
Das unglücklichste Gesicht macht bei alledem ausgerechnet der Hoffnungsträger der Umweltschützer, Gesundheitsdezernent Piervito Antoniazzi. Er war vor zwei Jahren in die Koalition geraten, weil Sozialistenchef Craxi Rache für eine christdemoktratisch-kommunistisch-grüne Allianz in Palermo wollte und darum die Christdemokraten (DC) in Mailand durch seinen Schwager Pillitteri hinauswerfen ließ, was aber numerisch nur mit Hilfe der Grünen möglich war. Seither zerreibt sich der Umweltschutz-Gesundheitsdezernent zwischen dem Erhalt der einzigen linksgrünen Koalition Italiens und seinem ökologischen Auftrag. Von den eigenen Leuten lange Zeit als „zu moderat“ eingestuft, hatte er diesmal, gestützt auf handfeste Werte, die Smoglage denunziert. Doch Undank ist der Welt Lohn: Weil der Arme in der Eile (die Nachricht von den gestiegenen Werten erreichte in spätabends) das Wort „Alarmzustand“ mit „Alarm“ verwechselte - in der bürokratischen Nomenklatur offenbar ein wichtiger Unterschied - bekommt er nun Prügel von der Industrie wie von seinen Stadtratskollegen und muß sich gegen den Vorwurf des „Katastrophenschreiers“ wehren.
Er „koche manchmal vor Wut“, gesteht er mittlerweile, „weil wir nun die eindrucksvolle Chance hätten, anhand dieses Desasters langfristige Pläne zur Sanierung der ganzen Region durchzusetzen“ - aber nichts da. Mehr als 5.000 Einzelmeßwerte haben die Mailänder inzwischen auf den Tisch bekommen, rund drei Dutzend, einander teilweise widersprechende, Kataloge zum Selbst- und Umweltschutz aus allen möglichen Fachreferaten der Stadt und der römischen Regierung. Doch „irgendwie bewegt sich überhaupt nichts“, erkennt 'il manifesto‘ resignativ, „es geht aus wie immer in Italien: viele Worte, viel Bewußtsein - und keine Taten“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen