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Das Gesicht der Freiheit

■ „Sur, Süden“: Der erste Film von Fernando Solanas erzählt die Geschichte von Floreal stellvertretend für das argentinische Volk, das sich langsam und zaghaft von der diktatorischen Vergangenheit befreit

Der Morgen dämmert langsam heran, das Licht ist fahl, zwei Gesichter sehen sich an. Sie sind durch eine Glasscheibe getrennt, aber die Spiegelung projeziert sie übereinander. Die Nacht ist zuende. Endlich.

Buenos Aires atmet wieder, ein Hauch von Freiheit weht durch den Film, ganz zart nur, aber spürbar. Fernando Solanas Sur, Süden ist die Geschichte eines Landes und seiner Bewohner. Es ist die Geschichte einer Nacht der Suche, der Rückkehr und der Erinnerung. Das Leben in Argentinien findet zurück zu sich selbst. Langsam nur, tastend und manchmal ungläubig, die Diktatur ist zerschlagen. Doch Sur ist auch ein alter Tango von Anibal Troilo

und ein Straßencafe und die Hoffnung eines freien, südlichen Amerikas.

Was sich hier leicht pathetisch abzeichnet, ist eine argentinische Kinoproduktion, die nur vor dem politischen und historischen Hintergrund betrachtet werden kann. Solanas selbst flüchtete 1976 vor der Militärdiktatur ins französische Exil, Sur ist sein erster Film, der ausschließlich in seinem Heimatland hergestellt wurde.

Floreal, der ehemalige Schlachthofarbeiter, ist nach fünfjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden. Er lebt, und das ist wahrhaft eine ganze Menge. Viele andere Häftlinge tauchten nie wieder auf, sie gehörten zu den desaparecidos,

den Verschwundenen, oder sie kamen um, bestialisch zu Tode gefoltert oder einfach en passant erschossen. Das Gesicht des Todes hat viele Nuancen, Solanas Werk versucht dies zu zeigen. Floreal geht nicht direkt nach Hause, wo seine Frau und sein Sohn auf ihn warten. Floreal wandert durch die Nacht auf der Suche nach einer argentinischen Realität, die ihm fremd ist, auch wenn er sie so sehr erhoffte. Die Nacht ist dunkel und unberechenbar, „sie ist der Schauplatz für Liebe und Relexion. Für Tod und Traum. Diese eine Nacht umfaßt alle Nächte, das ganze Leben.“

Solanas Filmebenen verschmelzen zu Bildermosaik der Erinnerung und der Hoffnung, einer sehr fragilen allerdings. Floreals Umherziehen geschieht in einer blauschwarzen Szenerie der Straßen und Gassen von Buenos Aires, die von Flugblättern übersäht sind. Nebelschwaden verhüllen oft die Sicht, sie wabern und quellen über das Pflaster, verschlucken Silhouetten oder enthüllen Menschen und Traumgestalten.

El Negro ist so ein Moderator durch die Zeit. Er ist tot, erschossen auf offener Straße. In einer Rückblende erlebt er mit Floreal noch einmal seinen eigenen Tod, seine grotesken Kommentare halten der Realität den Spiegel vor, er hat erst nach seinem Tod erkannt, wer seine wahren Freunde waren. Rastlos wandert Floreal weiter,

unfähig zu begreifen, wie sehr seine eigene Veränderung und die der Umwelt Entscheidungen von ihm fordern.

Diese Entscheidungen hat Rosi, seine Frau, längst hinter sich. Sie mußte mit einer Situation fertig werden, die sogar offen ließ, ob Floreal überhaupt noch lebte. Auf der Suche nach ihm erlebt sie die ganze Ohnmacht des argentinischen Volkes, doch sie verzweifelt nicht, sie will weiterleben.

Begleitet wird Floreal vom Tango. „Die Seele des Volkes“ nennt der Regisseur diese nächtliche Musik in den Straßen. Tangos seien gesungene Geschichten befindet er und somit geeignet, eine Vermittlungsrolle zu übernehmen. Das Nebeneinander von „Litera

tur, Theater, Poesie, Malerei und Musik“ macht Sur zu einem Kunstfilm. Den Konventionen amerikanischer Filmproduktionen wollte er sich bewußt verweigern, dem Kulturimperialismus etwas eigenständiges, argentinisches gegenüberstellen.

Sur ist ein Kinoerlebnis der vielen Filmebenen, der eindrucksvollen Bildsequenzen, der Traumbilder und der beklemmenden Tatsache, wozu uniformierte Marionetten in ihrer Allmacht fähig sind. Sur ist aber auch ein Film der Hoffnung und Zuversicht. Dies zu vermitteln, ist Solanas Kunststück.

Jürgen Francke

Cinema, 20.45 Uhr

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