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Rai ist der Geist

■ Über die Musik der Algerier in Paris

Thomas Bohnet

IParis Barbes. Wer sich mit den vielen Menschen durch die belebten Straßen und Gassen rund um die Metrostation Barbes -Rouchechouart drängelt, glaubt sich in einer nordafrikanischen Stadt. Die Straßenzüge mit ihren Krämerläden, arabischen Bäckereien und Stoff- und Tuchhandlungen sehen aus wie die Wege in einem orientalischen Bazar. Die Auslagen der Geschäfte ragen weit auf die Gehsteige heraus, dazwischen bieten fliegende Händler Uhren und Goldimitationen an. An jeder Ecke stehen Männer in kleinen Gruppen, reden, trinken Cafe oder beobachten nur stumm das Treiben der Kauflustigen. Europäischen Franzosen sind in der Minderheit, Touristen nur wenige zu sehen. Dabei liegt Barbes nur wenige hundert Meter vom großen Touristenmagneten Sacre Coeur entfernt. Den Franzosen ist der Stadtteil mit hoher Arbeitslosigkeit, hoher Kriminalitätsrate suspekt. Mitten im bunten Straßenbild, dem Stimmengewirr und den fremden Gerüchen ist Musik zu hören. Musik, die aus einem der unzähligen Elektroläden dringt.

Mokrane ist 16 Jahre alt und arbeitet im Geschäft seines Vaters. In Frankreich geboren und aufgewachsen ist der Sohn algerischer Eltern einer der halben Millionen Beurs, wie sich die Kinder der arabischen Immigranten (die zweite Generation) selbst nennen. Vor ihm auf der Verkaufstheke steht ein riesiger Ghettoblaster, aus dem die arabischen Klänge dringen: Trommelrhythmen, ein tanzendes Akkordeon und kehlige arabische Stimmen, dazwischen vernehmbar eine Rockgitarre. „Das ist unsere Musik, der Rai.“ Mokrane dreht sich zur Wand um, an der Dutzende von Kassetten stehen und zieht eine nach der anderen heraus, die dann nach und nach im Kassettenrekorder verschwinden. Mit Feuereifer spielt er mir seine Favoriten vor: Cheb Mami, Cheb Moumen, Raina Rai,... Namen, die hierzulande kaum jemand kennt, und, „der Beste von allen“, wie Mokrane erklärt, „le roi du rai“, der König des Rai, Cheb Khaled.

IIKhaled ist einer der „jungen“ (die Übersetzung des arabischen „Cheb“, weiblich: „Chaba“) Rai-Sänger, die auch in der Bundesrepublik bekannt sind. Einer derjenigen, die den traditionellen Rai mit modernen, westlichen Rock- und Popelementen gemischt haben.

Entstanden in den Gebirgen des Maghreb, des Westteils der arabischen Welt, war der Rai ursprünglich eine Volksmusik, von Hirten auf Trommeln und Flöten gespielt. Später brachten die Nomadenvölker ihre Musik in die Städte, wo sich der Stil beständig weiterentwickelt hat. So wurde die algerische Hafenstadt Oran, die „Stadt der Feste“ - sehr schön beschrieben in Albert Camus „Die Pest“ - zum Zentrum des Rais. Dort, im Schmelztiegel der Kulturen, wo sich Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen des Mittelmeerraumes trafen, fanden neue Instrumente (Akkordeon, Gitarre und Orgel) den Weg zum Rai. Zuerst spielten ihn reine Frauenorchester, Cheikates (oftmals ehemalige Prostituierte) bei Hochzeits- und Beschneidungsfesten, aber auch - und daher geriet der Rai schon früh in Mißkredit bei den jeweiligen politischen und religiösen Machthabern - in den Bordellen der Hafenstadt. Tiefgreifende Veränderungen brachte vor rund zwanzig Jahren der Trompeter Bellemou, der Vater des „modernen Rai“. Mit seinen jazzigen, für arabische Ohren „schrägen“ Passagen, öffnete er den Rai hin zum Pop und Rock westlicher Prägung. Zahlreiche junge Rai-Sänger inzwischen hatten Männer die Frauenorchester verdrängt versuchten sich in weiteren Experimenten und bauten E -Gitarre, Baß, Schlagzeug und Synthesizer ins Rai -Instrumentarium ein.

IIIRai, das sind unsere Wurzeln. Rai ist eine Musik der Jungen, ein Ausdruck der Jugend.“ Kamel Amriou ist Ende zwanzig, Mitbegründer und Redakteur von Radio Beur, dem größten arabischen Sender in Paris. 1981, als die Linke in Frankreich an die Regierung gekommen war und es für Immigranten möglich wurde, freie Assoziationen zu bilden, wurde das Radio gegründet. Kamel erzählt: „Wir machen das, weil unsere Eltern ausgebeutet, gedemütigt und kolonialisiert worden sind. Wir geben ihnen, die nie die Möglichkeit gehabt haben zu sprechen, die Sprache zurück. Wir verstecken uns nicht mehr, sondern zeigen uns heute als Franzosen, die eben aus einem anderen Land kommen.“ Angesichts des versteckten und teilweise offenen Rassismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, der Erfolge Le Pens und seiner Front National, scheint dieses Selbstbewußtsein vonnöten.

Radio Beur ist mit seiner Mischung aus Informationen (20 Prozent der Wortbeiträge werden in arabisch ausgestrahlt) und Musik (ein Drittel arabisch, ein Drittel andere ethnische und ein Drittel westliche Musik) für die arabische Gemeinschaft in Paris ein wichtiges Medium. „Radio Beur ist mehr als ein Radio, das man gewöhnlich hört“, erklärt uns Kamel. „Wenn die Leute mit den Behörden Probleme oder private Schwierigkeiten haben, können sie bei uns vorbeikommen oder uns anrufen. Da sehen wir uns auch als eine Art Sozialarbeiter.“ Der Dialog zwischen Hörer und Radio sei wichtig. Ein Dialog, der funktioniere, wie Kamel am Beispiel der Hörerinnen verdeutlicht. „Früher haben bei uns kaum Frauen angerufen, da hat es Tabus gegeben. Heute kommen Mädchen und Frauen auch zu unseren Veranstaltungen.“

Radio Beur ist auch der größte Veranstalter von Rai -Konzerten in Paris. Neben Werbeeinnahmen sind die Erlöse aus diesen Konzerten die Hauptfinanzierungsquelle des Senders. Was bedeutet der Rai für Kamel? „Rai ist in erster Linie Tanzmusik. Es ist die Musik der Jungen, die bestimmte Schranken durchbricht, Tabus angreift.“

Jahrzehntelang verboten die algerischen Behörden Aufführungen und zensierten Lieder. Dies lag vor allem an den für ein islamisches Land freizügigen Texten, die sich unter anderem mit freier Liebe, Sex und Alkohol beschäftigen. Erst in jüngster Zeit ist der Rai auch von regierungsoffizieller Seite anerkannt worden, weil sie offensichtlich den Ventilcharakter des Rai für die Jugend erkannt hat. Gleichwohl habe der Rai, so Kamel, etwas zu tun gehabt mit den jüngsten Unruhen in Algerien. „Der Rai ist ein Aufwachen der Gedanken. Die Leute, die Jungen, wollen sich ausleben, sich amüsieren, bewegen. Das ist wie überall, weltweit, das Zeichen der Jugend.“ In Algerien ginge es nicht nur um Hunger und Durst, sondern auch um Freiheit. Das Lebensgefühl Rai richtet sich gegen Zwänge, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich, im strengen islamisch -sozialistischen Staat.

IVAllmählich nehmen die französischen Medien den Rai ernst, das war nicht immer so“, erzählt Cheb Kader, der neue Star der Rai-Szene. Wir treffen Kader und seinen französischen Manager Michel Levy im Fouquet's, einem der schönsten (und teuersten) Cafes von Paris. Erst seit zwei Jahren arbeiten der junge Sänger und sein Manager zusammen. Kader hat es innerhalb dieser kurzen Zeit geschafft, sowohl international als auch national bekannt zu werden. Nachdem Kaders erste Platte in ganz Westeuropa auf positive Resonanz gestoßen war und nach Auftritten in halb Europa, darunter ein fünftägiges Gastspiel im Westberliner „Tempodrom“, das insgesamt 11.000 Besucher anlockte, werden nun die großen Plattenfirmen auf ihn aufmerksam. Japan ruft, und demnächst geht es auf Tour nach Brasilien, Kanada und in die USA. Die französischen Medien ziehen nun langsam nach. „Die Franzosen tun sich mit dem Rai schwer“, sagt Manager Michel Levy, der sich schon seit Jahren mit arabischer Musik beschäftigt. „Das hängt mit dem Algerienkrieg zusammen. Sobald man in Frankreich das Wort 'Araber‘ verwendet, gibt es viele Menschen, die erst mal 'nein‘ sagen. Kaders Platte zum Beispiel, die ist bei allen Radiostationen gut angekommen, sie hat den Musikverantwortlichen bei fast allen Sendern gut gefallen. Doch gespielt wurde sie anfangs nur selten, weil sie Angst vor den Reaktionen ihrer Hörer hatten.“ Heute müssen sich die französischen Medien mit dem Rai beschäftigen. „Sie haben zum einen Angst, daß sie etwas verpassen, zum anderen wollen sie international nicht als Rassisten dastehen“, analysiert Michel Levy die Situation.

Für die jungen Araber in Frankreich ist der Sohn marokkanischer Eltern, der 1966 im algerischen Oran geboren worden ist und seit 1976 in Frankreich lebt, eine Identifikationsfigur geworden. Kader ist einer von ihnen, einer der es geschafft hat. Michel Levy erklärt das so: „Die jungen Araber können sich damit identifizieren. Sie leben hier zum großen Teil unter schlechten Bedingungen in den grauen Vorstädten, haben Probleme mit der Arbeit, mit dem Rassismus. Sie werden oft von der Bevölkerung zurückgewiesen. Sie sehen nun Kader und sagen sich: Der hat's geschafft. Warum nicht auch wir? Da ist Hoffnung.“

„Rai heißt eigentlich übersetzt soviel wie Botschaft, Meinung“, sagt Kader. „Sag mir deine Meinung.“ Ähnlich wie beim nordamerikanischen Blues geht es auch beim Rai um den Looser. Sehr viele Lieder sind Liebessongs um verlorene oder nicht erwiderte Liebe, um Sex, um die Tröstungen durch Alkohol... Doch man kann die Rai-Geschichten nicht nur darauf reduzieren, das würde dem Musikstil nicht gerecht werden. Sehr oft werden im Rai auch Gedichte bekannter arabischer Poeten vertont oder schlichtweg religiöse Lieder gesungen. Kader hat in seinem Repertoire ein Stück, „Koumou Bih“, einen Text über Leben und Wirken des Propheten Mohammed. Die immer in Straßenarabisch gesungenen Lieder sind meist sehr poetisch, oftmals nicht ohne einen Schuß Ironie. Am schönsten bei Kaders Hit „M Hainek Ya Galbi“ („Ich spreche mit meinem Herzen“). Kader: „Das ist jemand, der spricht mit seinem Herzen. Sein Herz befiehlt ihm, den ganzen Tag den Frauen hinterherzurennen. Er ist ständig auf der Suche, treibt sich in Cafes und Bars herum. Irgendwann fühlt er sich verloren, er wäre lieber nur mit einer Frau zusammen. Doch sein Herz sagt: Nein, mach weiter. Also entsteht eine Diskussion mit seinem Herzen. Er klagt sein Herz an.“

In erster Linie ist der Rai-Markt ein Kassettenmarkt. Wie in Algerien besitzen die Immigranten in Frankreich nur selten einen Plattenspieler, dafür aber einen Kassettenrekorder. Kaders Platte gibt es kurioserweise in zwei verschiedenen Kassettenausgaben. Eine, mit demselben Cover wie die LP für die üblichen Plattengeschäfte (Kostenpunkt: 63 Francs, etwas mehr als 20 Mark) und eine in gleicher Qualität zwar, doch mit einem anderen Cover, speziell für die Kassettenshops in den arabischen Vierteln (Kostenpunkt: 20 Francs). „Wir mußten das tun, um uns vor Raubkopien zu schützen“, erzählt Michel Levy. „Die arabischen Bewohner von Barbes etwa zahlen nie mehr als 20 Francs für eine Cassette. Andererseits gehen Franzosen und Araber, die nicht in Barbes leben, nicht ins verrufene Viertel. Sie kaufen die gleiche Cassette lieber in der FNAC“, einer großen Warenhauskette.

VSaint-Quen im Norden ist eine der unwirtlichen, grauen Vorstädte, wie wir sie zum Beispiel aus „Tee im Harem des Archimedes“ des algerischstämmigen Regisseurs Mehdi Charef kennen. Dort, im Palais du Sport, gibt heute abend Cheb Khaled einen Auftritt. Unterwegs treffen wir zwei marokkanische Studenten, die wie wir den Weg zur Sporthalle suchen. Die beiden kommen aus Lille und sind gut zweihundert Kilometer weit gefahren. Tritt Khaled nie dort auf? „Doch, aber wenn hier eine Fete du Rai ist, dann muß man einfach da hin. Außerdem ist es für eine gute Sache.“ „Für einen unabhängigen palästinensischen Staat“ - lesen wir auf den Plakaten, die uns den Weg zur Halle weisen. Der Erlös des Solidaritätskonzertes wird zum Bau eines Krankenhauses in den von Israel besetzten Gebieten verwendet.

Im ovalen Innern der riesigen Halle ist das Fest schon in vollem Gange. Die arabischen Kids, vorwiegend junge Männer, doch auch etliche Mädchen und Frauen stehen dichtgedrängt vor der Bühne, tanzen und beklatschen die monotonen Trommelrhythmen von Nass El Ghiwane. Unter den gut dreitausend Besuchern gibt es überraschend wenige Bleichgesichter, meist ein paar Altfreaks, Linke, die wohl mehr aus Solidarität, denn aus Begeisterung für die Musik da sind.

Zwischen den Tanzenden schwenken unermüdliche Aktivisten die grün-weiß-rote Fahne der Palästinenser. Trotzdem ist Politik heute abend nicht angesagt. Die flammenden Appelle der Veranstalter nach dem Auftritt der Vorgruppe werden zwar artig beklatscht, aber die Khaled-Khaled-Rufe werden immer lauter. Als der endlich mit seiner siebenköpfigen Band die Bühne betritt, kennt die Begeisterung der Fans keine Grenzen mehr. Vom ersten Lied an verwandelt sich der Raum vor der Bühne in eine Tanzfläche. Auf den Rängen, in den Gängen wird in die Hände geklatscht. Kamel Amriou, der uns zur Fete einlud, hatte nicht zuviel versprochen. Um den Rai zu verstehen, müsse man Cheb Khaled live gesehen haben. Höhepunkt der schweißtreibenden Show, bei der auch die Beine des Mitteleuropäers nicht stillstehen wollen, ist das zuvor immer wieder lautstark mit „Raykoum-Raykoum„-Rufen geforderte „Hada Raykoum“, der bislang größte Hit des charismatischen Sängers.

Umlagert von Freunden und Fans nimmt uns Khaled nach dem Konzert in den einzigen einigermaßen ruhigen Platz der Umkleidekabine, in den Duschraum. Im Gegensatz zu dem jüngeren Kader, der sich seiner neuen Starrolle schon bewußt zu sein scheint und sich konzentriert auf den Weg nach „oben“ macht, wirkt der 28jährige Khaled wie ein echter Freak, ein Musikbesessener. Seit vierzehn Jahren nun ist er schon im Geschäft. Seit Khaled mit vierzehn die ersten Singles aufgenommen hat, sind rund 50 Kassetten und zwei Langspielplatten gefolgt. Direkt auf den Rai angesprochen, sprudelt es nur so aus ihm heraus. „Der Rai ist mein Vater, der Rai ist meine Familie... Er ist alles, was ich liebe. Rai ist der Geist.“ Er deutet auf seinen Arm. „Der Rai ist in meinen Venen.“ Khaleds Texte handeln von der Liebe, dem Glück, dem sozialen Leben. „Es geht um alles, was im Leben so passiert. Doch es geht nicht um Politik“, fügt er lächelnd hinzu. Hat Rai überhaupt etwas mit Politik zu tun? „Nein...“, er zögert und lacht, „höchstens 'Liebe machen statt Krieg‘. Der Rai hat den Frieden im Geist.“

Plattenauswahl:

Cheb Khaled: Hada Raykoum (Horizon Music Paris/Import)

Cheb Khaled/Safy Boutella: Kutche (EMI)

Cheb Kader: Cheb Kader (Ausfahrt/Efa)

Cheb Mami: Le Prince du Rai (Rec Rec)

Chaba Fadela: Fadela (Independance/Efa)

Zusammenstellungen mit ausgewählten Rai-Liedern:

Diverse: Rai Rebels (Virgin)

Diverse: Le Disque d'or du Rai (TIS)

Diverse: The Desert Songs - History of Rai Music (Ausfahrt/Efa)

Vor allem letztgenannte Platte ist zu empfehlen. Sie dokumentiert fünfzehn Jahre Rai von Bellemou bis Cheb Kader.

Konzert:

Am 17.2., 21 Uhr, spielen im Berliner Quartier Latin Cheba Fadela and Orchestra featuring Cheb Sahroui.

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