Gewalt in homöopathischen Dosen

Aikido: Einheit von Körper und Geist / Ein Kampfsport, dessen Ziel es ist, nicht zu kämpfen  ■  Von Werner Kosak

Es ist fast eine Sucht, die Bärbel Abend für Abend zum Aikido-Training treibt. „Ich habe einen stressigen Tag hinter mir und brauche das jetzt“, meint sie, denn sonst könne sie den alltäglichen Ärger nicht ertragen. Statt sich nach anstrengendem Tagwerk die wohlverdiente Ruhe zu gönnen, zieht es sie und eine wachsende Zahl Gleichgesinnter in einen schlicht eingerichteten Übungsraum, den Dojo.

Hier knien sie nun in weißen Judo- oder Karate-Anzügen am Rande einer Schaumstoffmatte, die fast den Boden eines ganzen Raumes einnimmt und folgen aufmerksam den Ausführungen ihres Lehrers. Dieser, zusätzlich bekleidet mit einem schwarzen Hosenrock, dem Hakama, demonstriert mit Hilfe eines Partners die Abwehr eines vermeintlichen Angriffs. Mit Schnelligkeit, Präzision und immer wieder verblüffender Wirkung reagiert er auf einen Griff zum Handgelenk. Der Angreifende fühlt sich, einem Strudel vergleichbar, in eine ausweichende Drehbewegung des Verteidigers hineingesogen, verliert sein Gleichgewicht und wird zu Boden gezwungen. Die Bewegungen laufen mit solcher Geschwindigkeit und Eleganz ab, daß der Zuschauer kaum wahrnimmt, warum der Angreifer fast wie von selbst auf die Matte fällt. Das Ganze erinnert eher an einen verunglückten Pas de deux als an eine Kampfsituation.

Flinke Wirbel

Man muß es selbst probieren, um zu verstehen, wie der flinke Wirbel funktioniert. Doch leichter gesagt als getan. Die Paare, die anschließend in wechselndem Rhythmus die Abwehrtechnik nachahmen wollen, tun sich schwer. Tatsächlich sind Monate und Jahre intensiven Trainings notwenig, um die erstrebte Perfektion zu erlangen. Wer schnellen Erfolg sucht, wird beim Aikido enttäuscht, ist sogar fehl am Platz. Der Weg ist wichtiger als das Ziel, lautet die Maxime im Dojo.

Aikido setzt sich aus den japanischen Wörtern Ai (Harmonie), Ki (geistige Kraft) und Do (Weg) zusammen, doch was steckt hinter den Begriffen? Ist es eine Selbstverteidigung, ein Weg der Selbstfindung, gar eine Art der Friedenserziehung, wie manche behaupten, oder einfach eine Gymnastik, die Spaß macht? Aikido versteht jeder anders, im Grunde ist es alles zugleich.

Das Aikido wurde vom Japaner Morihei Uyeshiba (1883 -1969) in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entwickelt und ist damit eine recht junge Disziplin. Viele Techniken entnahm er dem Schwertkampf der Samurai, den Rittern des japanischen Mittelalters. Hieran erinnern die kreisenden, weitausladenden und elegant wirkenden Bewegungen. Auch der für Aikido typische Griff zum Handgelenk hat sich aus dem Schwertkampf entwickelt.

Die Abwehr nutzt Zentripetal- und -fugalkräfte aus, die durch eine ausweichende Kreisbewegung, dem viel geübten Tai Sabaki, verstärkt, zu einer schwungvollen Verdrehung des Handgelenks führen können. Dabei beschränkt sich Aikido auf wenige Techniken, die dafür allerdings vollkommen beherrscht werden sollen, sozusagen in Fleisch und Blut übergehen müssen. Diese Bewegungsmuster können endlos miteinander kombiniert und variiert werden.

Der richtigen Atmung wird dabei größere Bedeutung beigemessen als der Muskelkraft. Erst wenn der Rhythmus des Atems mit dem der Bewegung übereinstimmt, gewinnt die Übung Leichtigkeit und ihre Wirkung kommt voll zur Geltung.

Doch im Ernstfall darauf vertrauen? Was will man mit Techniken, die dem Schwertkampf entlehnt sind, wo doch das Tragen von Schwertern so ganz aus der Mode gekommen ist? Zweifel sind berechtigt, ob Aikido tatsächlich eine effektive Methode zur Selbstverteidigung ist, die einem zum Beispiel bei einer Kneipenschlägerei über die Runden helfen kann. Kenntnisse in Jiu-Jitsu wären hier wohl dienlicher und in kürzerer Zeit erlernbar.

Innere Leere

Bevor es gelingt, die Bewegungsabläufe zu beherrschen, ist es notwendig, einen Zustand „innerer Leere“ herzustellen, in dem die Gedanken an nichts mehr haften bleiben. Erreicht der Schüler einen solchen Zustand, ist er auch fähig, sich intensiv anderen Dingen zu widmen.

Wenn er geht, dann geht er

Wenn er ißt, dann ißt er

Wenn er schläft, dann schläft er

Bereits die Samurai hatten diese, der Gedankenwelt der Zen -Meditation entlehnten, Vorstellungen schätzen gelernt. Ein unachtsamer Moment im Kampf konnte schließlich ihr Ende bedeuten. Voraussetzung dafür - alle ablenkenden Einflüsse auszuschalten und den aktuellen Erfordernissen gemäß zu handeln - ist jedoch, Ängste und Gefühle wahrzunehmen und nicht zu verdrängen.

Der Übende öffnet mit dem allmählichen Wiederentdecken seines Körpers auch den Zugang zu seinen Gefühlen. Deutlich merkt er, daß eine Technik nicht gelingt, solange die Gedanken um alltägliche Dinge kreisen. Die Trennung von Geist und Körper - eine im abendländischen Denken verankerte Vorstellung - erweist sich hier als Illusion.

Aikido verfeinert im Idealfall das Wahrnehmungsvermögen. Wenn körperlicher Bewegungsablauf und geistiger Zustand zur Einheit verschmolzen sind, ist ein wesentliches Ziel erreicht.

Uyeshiba war von den Lehren des Taoismus beeinflußt, als er das Aikido formte.

Daß Schwaches das Starke besiegt

und Weiches das Harte besiegt,

weiß jedermann auf Erden,

aber niemand vermag danach zu handeln(Tao Te King)

So verschieden die Kampfsportarten sein mögen, die Vorstellung von dem, was Kampf überhaupt ist, haben sie gemeinsam. Er setzt die Konfrontation mindestens zweier Gegner voraus, wobei einer angreift, um den anderen zu besiegen. Dieser wehrt sich und geht selbst zum Angriff über, ein Kräftemessen, bei dem es Sieger und Verlierer gibt.

Das Aikido widerspricht dem üblichen Verständnis von Auseinandersetzung, unterscheidet sich von anderen Kampfsportarten durch seinen friedlichen Charakter. Es kennt keine Angriffstechniken. Ziel ist, einen Streit erst gar nicht aufkommen zu lassen. Ihm aus dem Wege zu gehen, stellt schon einen Gewinn dar. Aikido verzichtet auf die Symbolik, die die Techniken anderer Kampfsportarten begleitet. Man denke nur an die anstrengende Theatralik der Karate-Kämpfer, wenn sie brüllen, ruckartig ihre Fäuste vor- und zurückstoßen. Bei den harmonischen, natürlich wirkenden Bewegungen des Aikido will der Gedanke an Kampf gar nicht aufkommen.

Auch dient eine Abwehr nicht dazu, den Gegner zu vernichten, sondern ihm - wie es im Aikido-Jargon heißt die Sinnlosigkeit seines Tuns begreiflich zu machen. Seiner Aggressivität wird kein Widerstand entgegengesetzt, sondern er wird durch schnelles Ausweichen ins Leere geführt. Gewalt und Schmerz werden dem Gegner - sozusagen homöopathisch nur insoweit zugefügt, wie es unbedingt notwendig ist. So sind im Aikido pädagogische Elemente enthalten, die Streit und Aggressivität als etwas Unnatürliches darstellen. Den Anderen in seinem Wesen zu akzeptieren, solange er die Harmonie nicht stört, ist oberstes Prinzip. Offen bleibt die Frage, ob Aikido nicht die Neigung verstärkt, notwendigen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.

Spaß an Bewegung

Aikido macht Spaß. Sonst würden kaum allabendlich Menschen jeden Alters und Geschlechts in einen Dojo eilen. Doch was daran so faszinierend ist, ist schwer zu fassen. Körperliche Betätigung ist es nicht allein; dazu würde das Fitness -Center an der nächsten Ecke ausreichen. Wichtig ist, daß Kopf und Körper gleichermaßen gefordert werden. Dabei werden leistungsorientierte Menschen nicht auf ihre Kosten kommen. Es gibt keinen Wettkampf, und Prüfungen spielen kaum eine Rolle. Erst jenseits der Leistungsorientierung kann man genießen, mit anderen gemeinsam Bewegungsabläufe zu lernen und zu verbessern.

„Das ist manchmal wie ein Fescht“, schmunzelt Ronald aus Süddeutschland, bevor er die Übungsräume verläßt. Und tatsächlich hat es einiges von einem Fest, bei dem Leute zusammenkommen, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben, eine angenehme Zeit verleben, um anschließend - jeder für sich - in die Alltagswelt zu entschwinden.