Silvester 87/88'-Prozeß droht zu platzen

■ Über die besondere Behandlung „polizeibekannter Personen“ / Täter nicht identifiziert

Im Sprachgebrauch der Polizei gibt es die Figur „polizeibekannter Personen“ oder „Störer“. Das sind die, die man kennt, die immer dabei sind.

Eine dieser Personen stand gestern vor dem Schöffengericht: Nils N., 24 Jahre alt. Dem Staatsschutz ist er kein Unbekannter, schon am 6. Mai 1980 soll er dabei gewesen und erwischt worden sein. Staatsanwalt von Bock konnte ihn 1986 bei einer Protest-Aktion gegen die neonazistische DVU begrüßen, und auch in der Silvester-Nacht 1987/8, als der Penny-Markt am Sielwall-Eck geplündert wurde, war er dabei. Das erklärten jedenfalls zwei als Zeugen geladene Polizeibeamte, die ihn erkannt hatten als die dunkle Gestalt, die zweimal eine Sektflasche auf ihren Streifenwagen warf. „Schwerer Landfriedensbruch“ steht in der Anklageschrift, Mindeststrafe: sechs Monate.

Sie hätten den Werfer sofort als Nils N. erkannt, eben weil der polizeibekannt ist, berichteten die beiden Beamten: „Ich habe das Gesicht von Herrn N. gut in Erinnerung“, war sich der eine sicher. „Das Gesicht war mir gut in Erinnerung, ich hätte ihn liebend gern gegriffen“, bekennt der andere Beamte.

Der Verteidiger Wesemann hatte eine Gegenüberstellung beantragt. Der Angeklagte saß auf der Zuschauer-Bank, um ihn herum Gleichgesinnte und ähnlich Gekleidete. Die beiden Zeugen sehen sich die Zuschauer an, sollen den wiedererkennen, dessen Gesicht damals so sicher erkannt haben - beide können den polizeibekannten Nils N. unter elf anderen jungen Männern nicht identifizieren.

Eine „manipulierte Gegenüberstellung“ sei das, hatte der Staatsanwalt von Bock schon vorher eingewandt: Nils N. habe sein Haar gewaschen und ordentlich gekämmt, sei ohne Brille erschienen. Aber wenn sie sein Gesicht jetzt kennen, wirft der Verteidiger ein, wieviel Zweifel müssen dann an einer Identifizierung in jener Nacht angebracht werden?

Wesemann weist noch auf etwas anderes hin: Die Staatsanwaltschaft hat das einzige Verfahren, das sich auf jene Silvester-Feier am Sielwall bezieht, zu hoch angesetzt. Polizei-Zeugen haben den Flaschenwerfer nur als Einzelperson handeln sehen, die Silvester feiernde Menschenmenge hatte damit nichts zu tun - also kein „Landfriedensbruch“, höchstens „Sachbeschädigung“.

Wie man mit „polizeibekannten Personen“ umgeht, konnte die Öffentlichkeit schon zu Beginn des Verfahrens lernen. Nils N. war bei einer anderen Gelegenheit geschnappt worden, die Beamten auf der Wache 6 hatten ihn durch Gewaltandrohung dazu gezwungen, eine Sturmhaube aufzusetzen, um ihn so fotografieren zu können. Verteidiger Wesemann hatte damals die Vernichtung der Polizei-Fotos verlangt, da sie rechtswidrig hergestellt seien. Staatsanwalt von Bock hatte Monate später mitgeteilt, dies sei nicht möglich, die sie inzwischen Teil der Staatsanwalts-Akte seien. Das Verfahren gegen N. war längst eingestellt. In Wirklichkeit lagen die Fotos damals nicht in der Akte, sondern ohne Aktenzeichen bei der Kripo Abteilung Staatsschutz.

K.W.

Die Verhandlung gegen den „polizeibekannten Täter“ wird fortgesetzt am 2.3.89, 13 Uhr, AG R.151