Freiheit - Gleichheit - Geschwisterlichkeit: „I HAVE A DREAM!“

■ Pieke Biermann über feministische Essentials einer wirklich neuen politischen Kultur

In den letzten Wochen ward uns mal wieder ein Heiland geboren, in Gestalt eines Wortes. Seine Anbetung, so ward verheißen, sei unabdingbar für unser aller Heil. Das Wort heißt Essential, gezeugt haben es Herr Angst-vor-Chaos und Frau Staatstragend in inniger Union mit dem Heiligen Zeitgeist. Es krabbelte und brabbelte durch alle Schlagzeilen und zog Aufmerksamkeit auf sich. Es wog bei seiner Geburt Gewalt-ist-Staatsmonopol-schwer, es hatte Anbindung-an-den-Bund-farbene Augen und die Hautfarbe namens Unbestreitbare Alliierte Präsenz.

Wirkliche Essentials sind nicht bloß die Anerkennung von Realität als Realität. Die Substanz von politischem Handeln ist - um ein weiteres hin und wieder häufig in Anschlag gebrachtes Wort zu zitieren - dialektisch. Sie kristallisiert gleichzeitig eine bestehende Realität und eine noch immer nicht eingelöste Utopie. Die angeblich so große französische Revolution, die in diesem Jahr allüberall gefeiert wird, hat drei „Essentials“ hervorgebracht: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine Utopie, die bis heute nicht Realität geworden ist. Für die Freiheit gilt noch immer nicht die der Andersdenkenden als Meßlatte; es sind zwar in den Verfassungen der meisten Nationen, die sich für „richtlinienkompentent“ halten, alle Menschen gleich, aber in Wahrheit sind gerade in diesen Ländern immer noch einige gleicher als die vielen anderen; und was die Sache mit der Brüderlichkeit angeht - wir sollten es vielleicht ernsthaft doch mal mit der „Schwesterlichkeit“ probieren.

Essentials also, feministische Essentials. Und noch genauer: die feministischen Essentials, die zu diesem Zeitpunkt in dieser Stadt diesen Namen verdienen. Die also Realität und Utopie in ein dialektisches Verhältnis, in eine kreative, produktive Reibung bringen. Erstens: die Abschaffung der Armut. Zweitens: die Abschaffung der Gewalt. Und drittens: die Entfaltung einer tatsächlichen Multikultur.

Alle drei reflektieren sowohl die Armseligkeit der real -existierenden Verhältnisse als auch den Reichtum dessen, was Frauen nicht nur in dieser Stadt und nicht erst seit zwanzig Jahren an Kämpfen, an Arbeit, an Erfolgen, an Potenzen und Talenten zu bieten haben. Und alle drei benennen Terrains, auf denen unmittelbar politisch gehandelt werden kann und auf denen sich unmißverständlich und sehr direkt erweisen wird, ob die vielbeschworene neue politische Kultur wirklich wird, greifbar wird, spürbar, schmeckbar, riechbar, sichtbar.

Es hat sich herumgesprochen, daß Frauen das arme Geschlecht sind. Es ist darüber geforscht worden, es ist sozusagen wissenschaftlich und regierungsamtlich anerkannt worden. Das primäre Geschlechtsmerkmal des Mannes ist immer noch das Geld, das der Frau die Geldlosigkeit. Frauen leisten weiterhin - und die Tendenz ist steigend, weil zu den generationenlang eintrainierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen und militärischen Krisen inzwischen die Krise der insgesamt bedrohten Überlebensverhältnisse gekommen ist - zwei Drittel der sogenannten gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Da, wo sie Lohn erhalten, herrscht die Niedriglohnlogik. Nicht einmal für gleiche, weil vergleichbare Arbeit bekommen Frauen das, was Männer bekommen.

Das ist ein Skandal, und er ist nicht neu. Viel skandalöser und ebensowenig neu ist die Tatsache, daß die ganze Palette der zwischenmenschlichen, erzieherischen, emotionalen Arbeit, der „Reproduktionsarbeit“, (der Hausarbeit) zu nahezu hundert Prozent von Frauen getan wird und daß sie dafür nicht einen einzigen Pfennig Lohn oder Gehalt oder Einkommen sehen. Arbeit ohne Lohn. Endlose Arbeit, unsichtbare Arbeit, Arbeit „aus Liebe“. In den letzten Jahren ist sogar CDU-PolitikerInnen und Oskar Lafontaine aufgefallen, daß in diesem Tatbestand eine Zeitbombe steckt.

Armut trifft manche Frauen besonders hart, weil sie an eine besonders harte Arbeit gekoppelt ist. Ich meine die Immigrantinnen und Flüchtlinge. Flucht, Exil, Auswanderung sind verbunden mit Lebenskrisen, mit Entwurzelung, mit erbarmungsloser Unsicherheit. Exil bedeutet die Verschärfung der Arbeit von Frauen. Immigrantinnen, Flüchtlinge sind aber auch deshalb noch ärmer, weil sie nur die am schlechtesten bezahlten Jobs kriegen, wenn überhaupt. Oder weil sie, wenn sie sich auf dem sogenannten Schwarzen Markt verdingen, zum Beispiel in der Sexindustrie, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Ohnmacht so erpreßbar sind, daß sie sich das Wenige, das sie verdienen, wieder abnehmen lassen müssen - von mehr oder weniger gut organisierten Menschenhändlern, die darauf vertrauen können, daß die PolitikerInnen die Grundlage ihres Profits schon nicht vernichten werden. Und diese Grundlage heißt: Erpreßbarkeit, Diskriminierung, Armut, rechtliche Schutzlosigkeit.

Hier muß etwas grundsätzlich anders werden. Ich denke, es ist Zeit, die Lohn-für-Hausarbeit-Debatte wieder öffentlich zu führen. Stichwort Gewalt. Das übereifrige Betonen, Gewalt sei kein Mittel der Politik und wenn in einem demokratischen Staat jemand Gewalt ausüben dürfe, dann die eigens dafür eingerichteten Ordnungskräfte, wirkt deshalb so hysterisch, weil es eine sehr beunruhigende Tatsache verschleiert und wohl auch verschleiern soll: Gewalt ist ein alltägliches Mittel der Politik, und das berühmte „Gewaltmonopol des Staates“, das uns alle vor Selbstjustiz und Faustrecht bewahren soll, ist - freundlich gesagt - eine fromme Lüge. Die real-existierende Männergewalt gegen Frauen terrorisiert im tiefsten Sinne des Wortes nicht nur alltäglich alle Frauen, sie verschwendet nicht nur Energien von Frauen in gigantischem Ausmaß, diese Gewalt konditioniert politisch, schafft politische Verhältnisse. Sie ist sozusagen institutionalisiert in unsere Gesellschaft.

An dieser Stelle herrscht in der Tat das „Faustrecht“. Die Ordnungskräfte des staatlichen Gewaltmonopols schützen uns nicht nur nicht davor, sondern ich behaupte: Der Staat hat einen Teil seines Gewaltmonopols regelrecht ausgelagert und an die Allgemeinheit der einzelnen Männer übertragen. Hier kommen wir, wir Frauen und die wenigen Männer, die das begriffen haben, keinen Schritt weiter, wenn wir uns auf den Ausbau der „Versorgung der Opfer“ beschränken. Wir brauchen Initiativen, die an den Kern dieses Gewaltverhältnisses rühren. Gesetzesinitiativen etwa - zum Beispiel die Gleichstellung der vergewaltigten Ehefrauen mit den anderen Gewaltopfern. Zum Beispiel eine gesetzlich verankerte Pflicht des Staates, Schadensersatz und Schmerzensgeld für die Opfer zu zahlen. Wenn es den Staat selbst teuer zu stehen kommt, daß seine Frauen täglich bedroht sind und Opfer werden, dann erst muß er sich etwas einfallen lassen.

Aber wir können heute schon anfangen, jene gehätschelten oder gehaßten „Ordnungskräfte“ offensiv mit diesem Thema zu konfrontieren. Ich meine nicht nur, daß wir eine Polizeipräsidentin brauchen, auch nicht nur Extra-Ressorts für Gewaltverbrechen gegen Frauen. Ich meine, die Ausbildung der ganz normalen SchutzpolizistInnen, derjenigen, die zuerst an Tatorten auftauchen, muß den Respekt vor Frauen, den nicht-entwürdigenden Umgang mit Gewaltopfern enthalten und zwar zentral. Ich nehme an, das bringt eine ganze Menge Veränderungen mit sich - ich denke zum Beispiel mit Grauen an kasernierte, ghettoisierte Polizisten und ahne, welcher ganz normale männliche Frauenhaß da potenziert wird ... Auch da muß etwas grundsätzlich anders werden, und es wird direkt zu spüren sein.

Die Abschaffung der strukturellen Gewalt und der strukturellen Armut, die beide ein Geschlecht treffen, ist nicht nur Essential dafür, daß Frauen in diesem Land endlich anständig leben und sich frei entfalten können. Sie ist auch eine entscheidende Voraussetzung für die Existenz der vielbeschworenen multikulturellen Gesellschaft. Und das ist vielleicht der komplizierteste Zusammenhang: Nicht nur, weil die politische „Kultur“ hierzulande noch immer geprägt ist von niemals guten, ziemlich alten Nationalstaatsideen und weil die spätestens 1992 (mit dem EG -Binnenmarkt) noch sehr viel drastischer ad absurdum geführt werden. Sondern weil außerdem die herrschende Kultur in diesem wie in allen vergleichbaren Ländern eine Monokultur im sexistischen Sinne war und ist. Eine Mainstream-Kultur, deren Meßlatten von Männern und ihren Bedürfnissen definiert sind. Vom weißen Mann, oder, um einen weiteren Begriff aus dem Wortarsenal der politischen Kultur zu zitieren: Vom ideellen sexistischen und rassistischen Gesamt-Mann: In seiner Kultur herrscht das hierarchische Prinzip, und es schafft Ausgegrenzte und „Minderwertige“: Alle die, die nicht seiner „Rasse“ angehören, und alle die, die das „andere Geschlecht“ verkörpern. Wer es also ernst meint mit einer wirklichen Multikultur, mit der Abschaffung der herrschenden Monokultur, der muß Platz für beide freiräumen, für die aus rassistischen und die aus sexistischen Gründen Ausgegrenzten. Multikulturelle Gesellschaft heißt, die „Richtlinienkompentenz“ des weißen Mannes aufheben. Und das ist selbstverständlich keine Frage von sogenannten kulturellen „Spielräumen“. Auch der lineare Ausbau aller möglicher Orte von „Frauenkultur“ reicht nicht aus, solange diese Frauenkultur bewußt oder unbewußt, aber jedenfalls entschieden weiß ist. Wir brauchen hier nicht mehr und nicht weniger als einen qualitativen Sprung. Vielleicht ist Koalition, auch ein zur Zeit durch die Schlagzeilen gehetztes Wort, eine Perspektive: eine Koalition von unten. Ohne Hierarchie, ohne gegenseitigen Rassismus und Sexismus ironisch-metaphorisch gesagt: die Ausdehnung der „Weiberwirtschaft“ und der „polnischen Wirtschaft“ gleichzeitig, nach Art des Ölflecks.

Ich denke, es ist klar, daß die essentielle Bedingung für dieses „Essential“ eben die Abschaffung der Armut der Frauen und die Abschaffung der Gewalt gegen Frauen ist. Solange nicht alle Frauen, die in diesem Land leben, wirklich gleichgestellt sind - solange es Hierarchien zwischen „weißen“ und den „nicht-weißen“ Frauen gibt, also auch Hierarchien zwischen den entsprechenden Männern - und solange auch die Männer anderer ethnischer Gruppen noch als potentielle und tatsächliche Vergewaltiger angesehen werden müssen, solange gibt es keine Multikultur, die den Namen verdient.

Solange herrscht das Primat jenes „deutschen (Männer -)Wesens“, an dem nach Meinung viel zu vieler die Welt zu „genesen“ hat. Ich bin, umgekehrt, der Meinung, daß es für dieses „deutsche Wesen“ nur eine Genesung gibt - die radikale Abschaffung des „arischen Reinheitsgebots“, das immer auch Inbegriff des Männerwahns ist. Auf diesem Terrain hat der Nazistaat Trümmer hinterlassen, die wir alle, Frauen wie Männer, wegzuräumen haben. Der Rassenwahn, der Millionen Menschen vernichtet und vertrieben hat, hat auch aus einer vielschichtig und „bunt“ zusammengesetzten Bevölkerung einen homogenen, inzestuös-verarmten, langweiligen, öden Klumpen von „Deutschen“ gemacht, hinter denen die wenigen EmigrantInnen, die zurückgekommen sind und die relativ wenigen nicht-weißen Deutschen verschwunden sind und der erst durch Arbeitsimmigration und die Flucht vor Verfolgung aus anderen, zumeist ärmeren Ländern, wieder aufgemischt wurde.

Die Kultur dieses Landes Deutschland aber war vorher immer eine Mischung gewesen. Es gibt keine deutsche, im Sinne von „arische“ Kultur. Und ebensowenig gibt es die reine Männerkultur. Sie sind beide eine mehr oder weniger aggressive, brutale Fiktion des „weißen Mannes“.

Koalieren wir also gegen die Homogenität! Ja, selbstverständlich ist das ein Traum. Eine Utopie. Der schiere Maximalismus. Aber ich denke, viel mehr als wir bisher erlebt haben ist möglich - in einer Stadt, die seit vierzig Jahren in „ungeordneten Verhältnissen“ zu leben versteht, in einer Stadt, die mit manchen ihrer Minderheiten einen Umgang pflegt, der relativ arm an Diskriminierungsenergie ist - ich denke zum Beispiel an die hiesige Aids-Politik im Zusammenhang mit Huren, Schwulen und Junkies. Wir haben hier eine relativ breite, etablierte Frauenszene, wir haben Ansätze eines multikulturellen Alltags - bauen wir sie aus. Es ist die einzige wirkliche politische Antwort auf die Frustrationen, auf die materielle und sinnliche Verelendung, die sich am 29.Januar 1989 so überdeutlich artikuliert haben. Es ist die einzige Möglichkeit, den „republikanischen“ Etikettenschwindlern das Wasser abzugraben, in dem sie trübsinnig fischen, und die wirklichen republikanischen Essentials endlich einzulösen. Freiheit, Gleichheit und - ja, wie wär's mit Geschwisterlichkeit!

(Auszüge aus der Rede zur „Fraueneinmischung März 89“)