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Eine lange Nacht des Pokerns

SPD- und AL-Verhandlungskommissionen einigen sich auf ein Sachprogramm / Dissens bei Polizeistärke und Verfassungsschutz / 200seitiger Wunschzettel / Programm mit Widersprüchen  ■  Von Klaus Hartung

Berlin (taz) - Verhandlungskrimi nennt man wohl, was da in der IG-Metall-Tagungsstätte am Berliner Pichelssee stattfand - in der lauen Frühlingsnacht waren die Kommissionen von SPD und AL nach zehn Stunden Klausurtagung dazu übergegangen, sich wechselseitig zu belauern. Seit dem Morgen war die „Dissensliste“ reduziert worden, von 41 auf 21 auf 18 Dissenspunkte. Um 23 Uhr zog die SPD wieder aus und hinterließ bei der AL das Gefühl, sie wolle sich nicht mehr bewegen. Die AL hatte die Erhöhung der Gewerbesteuer geopfert, die sie ohnehin nicht für durchsetzungsfähig hielt. Der Dissens über die „Stromtrasse“ - die AL will keine Anbindung an den billigen westdeutschen Atomstrom hatte sich zum Dissens über die Ressortverantwortlichkeit in Sachen Energiepolitik verändert, d.h. ob sie bei dem Wirtschaftssenator bleibt (SPD) oder dem Umweltschutz (AL) zugeschlagen wird. Außerdem wollte die AL, daß auch die Wirtschaftsverwaltung ebenso wie andere Ressorts prozentual den Streichungen des Sparhaushaltes unterworfen werden, was faktisch Kürzung der Wirtschaftsförderung bedeutet hätte.

Weiterer Punkt: das fatale Deutsche Historische Museum. Hier hatte die SPD Diskussion eines neuen Konzepts und einen neuen Architektenwettbewerb angeboten. Da der GmBH-Vertrag des Projekts 1990 ohnehin ausläuft, stände das Schicksal des Museums in den Sternen. Hier aber wollte die AL noch symbolischen Zugewinn: der auf Lebenszeit amtierende Generaldirektor Stölzl sollte keine Ausstellungsstücke mehr anschaffen dürfen. Also: eine provokatorische Geste gegen Bonn war erwünscht.

Von besonderer Bedeutung war die Innere Sicherheit. Die AL verlangte einen Passus zur Reduzierung der Polizeistärke und praktisch die Streichung der Extremismusabteilung, versteckt in der Forderung, die Abteilung möge sich auf nachgewiesene Gewalttäter beschränken.

Die SPD zog aus und tagte hinter geschlossenen Türen: „Ende der Fahnenstange“. Kurz vor Mitternacht kamen die SPD -Parlamentäre Meißner und Lorenz mit dem letzten Angebot: Neues Konzept, neuer Architekturwettbewerb für das Deutsche Historische Museum, Schülermonatskarte zu 30 DM, Etaterhöhung beim Ressort Arbeit und Soziales, Einfluß des Umweltsenators auf die Energiepolitik. Nun tagte die AL hinter verschlossenen Türen und monopolisierte die Knackwürste und Buletten im großen Verhandlungssaal, was der SPD sauer aufstieß. Aber nicht nur das: Es herrschte ehrliche Empörung über den Verhandlungsstil der Alternativen. „All das, was wir anbieten, nehmen sie mit und dann satteln sie drauf.“ Man ärgerte sich über die Kleinkrämerei der AL. „Sie kümmert sich nur um ihre Identität und nicht um die Stadt.“

Die Fernsehleute filmten die laufende Uhr, die SPD -Verhandler betrachteten die stumme Diskussionsgestik ihrer künftigen Koalitionspartner durch die großen Glasscheiben. Erhebliche Zweifel an der Regierungsfähigkeit. Pätzold, designierter Innensenator: „Da haben wir das sozialrevolutionärste Programm seit Kurt Eisner und dann wollen die das an solchen symbolische Punkten scheitern lassen.“

Hat sich die AL über den Tisch ziehen lassen oder ist das „sozialrevolutionärste Programm seit Kurt Eisner“ durch Identitätsneurosen gefährdet? Schaut man sich die fast zweihundertseitigen (!) Koalitionsvereinbarungen an, stimmt beides nicht. Der Dissens beruht letztlich in einem grundsätzlichen Gegensatz: Die SPD hat wesentlich stärker mit Blick auf die tatsächlichen Probleme der Regierungstätigkeit verhandelt, in klarem Bewußtsein, daß die „Akzeptanz“ dieser rot-grünen Koalition durchaus strittig ist. Genaugenommen bestand der Dissens in der Frage, wie frontal eine Regierungskoalition einen widersetzlichen bis sabotagelustigen Regierungs- und Behördenapparat angehen kann. Die AL hatte zwar von der dezentralen Kulturarbeit über die Flüchtlingsproblematik bis zum Umweltschutz ihre weitaus entwickelteren Vorstellungen einbringen können. An den strittigen Punkten hat sie aber vornehmlich auf die Mehrheitsfähigkeit in der eigenen Partei geschielt.

Wenn geschriebene Worte etwas zählen, dann ist im Bereich der inneren Sicherheit ein großer Fortschritt zu erwarten: Deeskalierung der Polizeistrategie, Überprüfung der Führungsstruktur, Auflösung aller Sondereinheiten, keine Kasernierung der Ausbildung. Der Verfassungsschutz soll künftig einem Verfassungsschutzgesetz nach dem Volkszählungsurteil unterliegen. Parlamentarische Kontrolle durch einen öffentlich tagenden ständigen Ausschuß, Offenlegung und Vernichtung aller mißbräuchlichen Dossiers, Beschränkung der Beobachtung extremistischer Gruppen „auf das enge Maß“ - künftig sicher ein Anlaß zum Definitionsstreit. Justizreform: Errichtung eines Verfassungsgerichtes, Reform der Justizausbildung, Abschaffung des „manipulativen Rotationsprinzips“ im Richterwahlausschuß, Wiederaufnahme der Justizreform, Offener Vollzug als Regelvollzug. Eine kleine Provokation für Bonn: „Kündigung der Zahlungen an die Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter.“

Auch die Alliierten haben einiges zu schlucken: „Anpassung“ des alliierten Strafrechts an die „moderne Rechtsentwicklung“ (die Todesstrafe ist noch alliiertes Recht in Berlin); „rechtsstaatliche Kontrolle“ für die Post und Telefonüberwachung; Gewährleistung eines „gesetzlichen Richters“, falls ein Berliner Bürger seine subjektiven Rechte durch die alliierten Militärregierungen verletzt sieht.

Das Umweltschutzprogramm ist so breit und detailliert angelegt, daß man tatsächlich von einer ökologischen Wende sprechen kann: Vorrang von Fußgängern und Radfahrern gegenüber dem Auto, von Eisenbahn gegenüber dem Flugzeug. Der Kita-Bereich wird ganz auf Integration ausgerichtet und die Warteliste soll schnell „abgearbeitet“ werden. Die Schule soll geistig behinderte Kinder nicht mehr ausgrenzen. Freierer Umgang mit Lehrplänen, mehr Raum für Elternwillen und Schülermitverwaltung. Diese Liste gibt allenfalls eine Idee vom Umfang der Vereinbarung.

Signalwirkung hat sicher der Teil Ausländerpolitik: hier werden Familiennachzug, kommunales Wahlrecht und Ausweisungstatbestände im Sinne der Betroffenen geregelt. Also ein Wunschprogramm? Abgesehen davon, daß sich die Koalition ein Arbeitsvolumen zudiktiert, das kaum in dieser Legislaturperiode zu bewältigen ist, zeigt das Programm doch bezeichnende Schwächen. Im deutschlandpolitischen Teil wird zwar von der „Scharnierfunktion“ Berlins geredet, davon, daß besondere „Impulse“ zum Dialog ausgehen müßten. Aber die Vorschläge gehen kaum über die Ideenlosigkeit einer „neuen Phase der Entspannungspolitik“ hinaus. Keine Rede von der Veränderung in Osteuropa und der Konsequenz für Berlin.

Dafür wird Friedenserziehung, Friedensforschung, Frieden gefordert. Kein Berliner wird sich künftig der amtlichen Friedenspredigt entziehen können. Statt neuartiger Ost-West -Beziehungen wird Berlin zum „Zentrum des Nord-Süd-Dialogs“ ernannt. Und darum soll der Senat vor allem den Wiederaufbau Nicaraguas unterstützen.

Deutlicher wird die Milieubezogenheit der Programmatik bei der Wohnungsbaupolitik. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wächst die Stadt; der Senat hat sich auf 7.000 Neubauwohnungen pro Jahr festgelegt. Aber woher die Bauflächen kommen sollen, können auch die Experten nicht sagen. Gleichzeitig wird bei allen Neubauten ein Bebauungsplan verlangt, das bedeutet Einspruchsmöglichkeiten der Nachbarn, die sich gegen jede Stadtverdichtung wehren werden. Vor allem aber: der Wohnungsnotstand ist programmiert, wenn die Zuzugszahlen von Aussiedlern anhalten. Selbst wenn die Neubauvorhaben möglich wären, wäre die Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht entspannt. Jeder weiß, daß man um eine Kontingentierung der Aussiedlerzahlen nicht herumkommt. Aber: das Wort Aussiedler kommt in den 200 Seiten nicht vor.

Viel Glück von oben wird versprochen - das verlangt einen durchsetzungsfähigen Staat, der gleichzeitig durch eine umfassende Demokratisierung geschwächt werden soll. Sympathisch auf jeden Fall, daß durch eine Parlamentsreform die Rechte der Opposition gestärkt werden sollen - vor allem eben jener Opposition, die ihre demagogischen Attacken schon begonnen hat. - Zum Schluß: was machte die AL am Ende der Fahnenstange, in dieser Pichelseer Nacht? Um zwei Uhr nachts erklärte sie das Ende der „Sachverhandlungen“ und vermied jede öffentliche Andeutung, daß man mit dem Erreichten zufrieden sein konnte.

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