: Memmingen und kein Ende
■ Zwischenbilanz nach 50 Prozeßtagen gegen den Frauenarzt Dr.Theissen / Von Gunhild Schöller
Auf den Tag genau ein halbes Jahr schon dauert dieser größte Abtreibungspozeß in der Geschichte der Bundesrepublik. Über 80 Zeuginnen sind bisher verhört worden, 70 warten noch darauf, daß sie über ihre finanziellen und privaten Verhältnisse ausgefragt werden. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit - um sie zu schützen, sagen die Richter des Landgerichts. Mit ihren oft zynischen Fragen hätten sie aber auch selber Grund, die Öffentlichkeit zu scheuen.
Sie trieb ab, weil sie nicht von ihrem Ehegatten, sondern von einem anderen Mann schwanger war. Das weiß Richter Detlef Ott, 37, schon aus der Anklageschrift. Aber ihm genügt das nicht. Von der Zeugin will er mehr wissen. „Sind Sie sich denn sicher, daß Ihr Mann nicht der Vater war?“ Die Angesprochene, fahrig und nervös, muß nun den drei Richtern und zwei Staatsanwälten Auskunft darüber geben, daß sie schon lange nicht mehr mit ihrem Mann geschlafen habe. Er habe auch kein Interesse mehr an ihr gehabt, da hätte sie schon „etwas initiieren“ müssen. Richter Ott: „Und wenn Sie etwas initiiert hätten - meinen Sie, Ihr Mann wäre beim Nachzählen dahintergekommen?“
Richter Ott profiliert sich als Scharfmacher in dem Prozeß gegen den fünzigjährigen Frauenarzt Horst Theissen, dem illegaler Schwangerschaftsabbruch in 156 Fällen vorgeworfen wird. Den in Bayern zu einem Hürdenlauf ausgebauten Instanzenweg zu einer legalen Abtreibung nach der Notlagenindikation hatte Theissen seinen Patientinnen häufig erspart. Wenn er in einem langen Gespräch zu dem Eindruck gekommen war, daß eine Notlage vorlag, nahm er den Abbruch vor - ohne auf der vorgeschriebenen Sozialberatung und der Indikationsstellung durch einen anderen Arzt zu bestehen.
Eine Zeugin sagt aus, ihre Schwangerschaft sei aus einer Zufallsbekanntschaft entstanden, die nur wenige Wochen gedauert habe. Den Mann habe sie später nicht mehr gesehen, sie habe deshalb auch kein Kind von ihm haben wollen. Richter Ott, der mit dem Charme von Schweinchen Dick auf der erhöhten Richterbank sitzt, will es genau wissen: „Wie lange hat's gedauert, Wochen oder Monate?
Die Zeuginnen werden unter Ausschluß der Öffentlichkeit vernommen. Dadurch soll ihre Intimsphäre geschützt werden, allerdings ist damit das Gericht auch vor der Kontrolle durch die Öffentlichkeit geschützt. Über ihre Abtreibung, die mehrere Jahre zurückliegt, müssen sie vor der rein männlich besetzten Richterbank und vor den beiden Staatsanwälten Rechenschaft ablegen. Dabei haben sich der Vorsitzende Richter Albert Barner, 61, zusammen mit den Staatsanwälten Herbert Krause, 34, und Johann Kreuzpointner, 35, einen ganz eigenen Fragenkatalog zusammengestellt. Danach wollen sie beurteilen, ob die Frau in einer Notlage gewesen ist. Ob sie Schulden gehabt hätte, wird jede Zeugin gefragt, und wenn ja, wie hoch diese gewesen seien. Die Zeugin hat das schriftlich zu belegen. Richter Ott nimmt dann seine Brille ab und prüft die Belege der Bausparkasse, des Kreditinstituts und den Einkommenssteuerbescheid.
Bereits standardisiert sind die Fragen nach Zustand und Qualität der Partnerschaft. Da wollen die Richter nicht nur wissen, ob die Beziehung zur Zeit der Abtreibung in einer Krise gewesen ist, sondern auch, ob die Zeugin sich mittlerweile wirklich von ihrem Mann getrennt hat.
Zum Schluß darf dann die Frage nicht fehlen, ob die Zeugin das Kind nicht bei ihrer Mutter, Großmutter oder vielleicht bei ihrer Schwester hätte unterbringen können. Verneint sie dies, so muß sie - falls sie nicht verheiratet ist - sich vorhalten lassen, warum sie das Kind nicht zur Adoption habe freigeben wollen. Eine Zeugin bekommt schon nach wenigen Minuten im Gerichtsaal einen Weinkrampf. Der Antrag von Rechtsanwalt Jürgen Fischer, der neben Sebastian Cobler und Wolfgang Kreuzer den angeklagten Arzt verteidigt, auf eine kurze Pause wird vom Vorsitzenden Richter abgelehnt. Er ist sichtlich überfordert, will auf die Gefühlslage der Zeuginnen keinesfalls eingehen, sondern diese Vernehmungen nur hinter sich bringen. 80 Zeuginnen wurden mittlerweile schon vernommen, über 70 hat er noch vor sich.
Je nachdem, wie selbstsicher oder ängstlich eine Zeugin, wie hoch ihr Bildungsstand und ihr sozialer Status ist, wird sie von Richtern und Staatsanwälten höflich oder herablassend und zynisch behandelt. Gleich zu Beginn der Zeuginnenvernehmungen holte man sich die türkischen Patientinnen von Theissen in den Zeugenstand. Eine 39jährige Türkin, verwitwet mit zwei Kindern, die von einem verheirateten Landsmann schwanger war, fragten die Richter in Buchhaltermanier nach der Größe ihrer Wohnung, ihrem Lohn und ihren Schulden. Außerdem wollte man wissen, ob nicht die Nachbarin auf das kleine Kind hätte aufpassen können. Aber weder Richter noch Staatsanwalt kam in den Sinn, sie zu fragen, welche Schande es für eine Türkin bedeutet, ein uneheliches Kind zu haben.
Statt dessen fahndeten die Staatsanwälte nach dem Mann, dessen Namen die Frau nicht preisgeben wollte. Erfolgreich. Während die Frau zur Arbeit war, fuhr die Kripo zu ihrer Wohnung und fragte ihre Tochter, wie der Freund der Mutter heiße. Kurz darauf tauchte die Polizei in seiner Wohnung auf und überreichte ihm eine Ladung vor das Landgericht. Einen Tag später stand er dort im Zeugenstand.
Während am Landgericht der Theissen-Prozeß läuft, finden vor dem Amtsgericht - von der Öffentlichkeit fast nicht beachtet - noch immer Prozesse gegen Frauen und Männer statt, denen ein Verstoß gegen §218 vorgeworfen wird. 139 Frauen wurden mittlerweile rechtskräftig verurteilt und mußten Strafen bis zu 3.200 DM bezahlen.
Eine Memminger „Spezialität“ sind dabei die Ermittlungen und Verurteilungen wegen „Beihilfe zum illegalen Schwangerschaftsabbruch“. Ahnungslos hatten die Frauen bei den Verhören durch die Kripo oder vor dem Richter ausgesagt, daß ihr Freund oder der Ehemann (manchmal auch die Freundin) ihnen die Adresse von Theissen gegeben, daß er sie in die Praxis gefahren und z.T. auch die 600 DM für den Abbruch mitbezahlt habe. Niemand klärte zum Beispiel die Ehefrauen auf, daß sie ihren Angetrauten nicht zu belasten brauchten und die Aussage hätten verweigern können.
Einer der wenigen, der nicht stillschweigend zahlte, sondern gegen den Strafbefehl Einspruch einlegte , war ein 25jähriger arbeitsloser Kaufmann. In der vergangenen Woche wurde er zu 800 DM Geldstrafe verurteilt und ist jetzt vorbestraft.
Als seine Freundin 84 schwanger war, lebte sie als Studentin noch bei den Eltern. Er hatte gerade seine Ausbildung abbrechen müssen, weil der Betrieb der Eltern vor dem finanziellen Ruin stand. Dazu der Staatsanwalt während der Verhandlung: „Dann waren Sie also arbeitslos, da hätten Sie doch Zeit gehabt, sich um das Kind zu kümmern.“ Der Angeklagte, der heute eine hochverschuldete Videothek betreibt, versichert immer wieder, ihm sei nicht bewußt gewesen sei, daß er sich strafbar mache. Seine Freundin habe ihm gesagt, der Arzt Theissen habe eine soziale Indikation ausgestellt. Der Staatsanwalt: „Sie selbt haben wohl am besten gewußt, daß keine Notlage bestand.“
14 rechtskräftige Urteile wegen „Beihilfe“ gibt es mittlerweile in Memmingen. Sechs Ermittlungsverfahren sind noch nicht abgeschlossen, drei davon laufen gegen Ärzte. Sie hatten ihren Patientinnen den Namen Theissen genannt.
Passantinnen in der Fußgängerzone der Memminger Innenstadt. „Man soll dia Fraun doch in Ruah lassn“, eine 60jährige Memminger Hausfrau erzürnt sich über den Theissen-Prozeß und wie mit den Zeuginnen da „umgsprungen“ wird. Auch den Arzt solle man „in Ruah lassn. Dia Fraun sind doch zu ihm komma, da hat er ihna doch helfa müssa.“ Auch die 32jährige Hausfrau mit zwei Kindern, der das obligatorische „Abtreibung ist Mord“ schnell und selbstverständlich über die Lippen kommt, findet, „daß man das nicht alles an die Öffentlichkeit zerren sollte“.
Noch weniger Verständnis haben die Memminger Bürger und Bürgerinnen für die Verurteilung von Männern wegen „Beihilfe“. „Ja mei, Frau und Mann ghörn doch zamm“, vermag man darauf nur noch zu antworten.
Diese Stimmung ist neu. Zu Beginn des Prozesses fanden viele MemmingerInnen das Verfahren durchaus rechtens. Hierzulande ist man streng katholisch und wählt CSU. Aber mittlerweile hat der Abtreibungsprozeß den guten Ruf des sauberen Allgäustädtchens schwer geschädigt und man ist der großen öffentlichen Aufmerksamkeit überdrüssig. Selbstverständlich bleibt für einen braven Katholiken Abtreibung Sünde, aber er würde darüber lieber auf Erden stillschweigen und alles übrige dem Richter im Himmel überlassen.
Einen beachtlichen Anteil an diesem Stimmungsumschwung haben die Frauen des Memminger Frauenzentrums. Als die Prozeßwelle vor einem Jahr ins Rollen kam, gründeten zwölf Frauen eine Gruppe zum §218 und leisten seitdem oft mühselige Überzeugungsarbeit vor Ort. Bei der letzten bundesweiten - Demonstration im Februar waren dann tatsächlich mehr MemmingerInnen denn je unter den Marschierenden. Und das in einem Ort, wo jeder jeden kennt und wo man schnell in Verdacht kommt, für „den Mord am ungeborenen Leben“ zu sein.
Die Arbeit dieser Frauengruppe zielt aber nicht nur auf die Köpfe. Von Anfang an wollten sie die verfolgten Frauen auch praktisch unterstützen. Ein schwieriges Unterfangen in dieser Stadt, in der die Frauen, eingeschüchtert und beschämt, kaum jemals offen zugeben, abgetrieben zu haben. Woche für Woche inserierten deshalb das Frauenzentrum und der „Treff für ausländische Frauen“ gemeinsam in den beiden Lokalzeitungen. In einer großen Anzeige boten sie den Frauen, die in die Abtreibungsprozesse verwickelt waren, ihre Unterstützung an. Zuerst war die Resonanz darauf spärlich. Aber mittlerweile haben es 35 Frauen gewagt, die Telefonnummer des Frauenzentrums anzuwählen. Streng vertraulich wird dann mit ihnen gesprochen, und sie bekommen die Unterstützung, die sie wünschen. Das kann die Vermittlung einer Rechtsanwältin sein, die Übernahme der Kosten für diese oder auch ein Zuschuß, damit sie die Strafe, mit der ein vernagelter Richter sie stigmatisieren wollte, finanziell, aber auch politisch und persönlich nicht ganz alleine tragen muß.
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