Der Berg und die Macht des Schicksals

Ein Ski-Grundkurs auf philosophischer Basis / Von der Unzweckmäßigkeit des aufrechten Ganges und der Zweckmäßigkeit des Umweges  ■  Von Bernhard Riedl/Uli Teuber

Nach Th.W.Adorno ist Philosophie die Lehre vom richtigen Leben, und wie wir wissen, kommt es dabei nicht unwesentlich auf die richtige Haltung an. Nicht anders ist es beim Skifahren. In der Regel ist unser Lebensweg selten eben, und so wollen wir ihn mit einem Weg durch eine bergige Landschaft vergleichen. Der Berg - unser Schicksal - hat uns gegenüber immer eine Neigung. Im Falle der Zuneigung ist die uns gestellte Aufgabe nicht minder schwierig als im Falle der Abneigung.

Den Gipfel zu erreichen (des Glücks oder Unglücks mag dahingestellt bleiben) ist bekanntermaßen mit Schweiß und manchmal auch mit Tränen verbunden. In bezug auf das Skifahren haben dieses Problem die Liftgesellschaften gelöst.

Es bleibt der Fall der Abneigung, der hier behandelt werden soll. Manch ungebildeter Geist mit populär-psychologischen Kenntnissen würde empfehlen, einfach abzufahren. Doch auch Abfahren will gelernt sein!

Der Schuß

Als erste Möglichkeit drängt sich der Schuß auf. Jedoch das Leben in einer einzigen Schußfahrt bewältigen zu wollen, führt mit Sicherheit zu einem vorzeitigen Ende. Scheinbar paradoxerweise gibt es beim Skifahren besonders bei den Anfängern Personen, die, an sich überaus ängstlich, diese Möglichkeit auch in äußerst schwierigem Gelände bevorzugen. Das Paradoxon löst sich auf, wenn man bedenkt, daß ein Grab der sicherste Schutz gegen die Stürme des Schicksals ist (nach: G.Ch.Lichtenberg).

Beim Schuß ist die Haltung des aufrechten Ganges äußerst unzweckmäßig. Zu bevorzugen wäre eine Haltung von etwa 90 Grad zur Unterlage, bezogen auf den Körperschwerpunkt. Weiterhin ist es ratsam, zwei Standpunkte zu haben, die einerseits nicht zu nahe beieinander liegen sollten, andererseits aber auch nicht zu weit auseinander.

Es kommt des öfteren vor, daß Unebenheiten auf unserem Weg uns wankend machen bzw. das Schicksal uns zwei (oder gar noch mehr) Wege eröffnet.

Stehen wir zu eng, wird unser Gleichgewicht zu leicht erschüttert, stehen wir zu breit, neigen unsere Beine dazu, in Ermangelung jeglichen Reflexionsvermögens bezüglich der Folgen verschiedene Wege gleichzeitig beschreiten zu wollen. Die Vorteile der Schußfahrt liegen in der Schnelligkeit und relativen Mühelosigkeit, mit der man sein nächstes Etappenziel erreicht. Nicht zu vergessen: im Rausch der Geschwindigkeit und der eigenen Energie.

Was nun aber, wenn das Schußfahren mit der Sorge um unser körperliches Wohlbefinden unvereinbar ist? Soweit bekannt, hat Lichtenberg als erster die Lösung beschrieben: „Es gibt zwei Wege, das Leben zu verlängern, erstlich, daß man die beiden Punkte geboren und gestorben weiter voneinander bringt und also den Weg länger macht... Die andere Art ist, daß man langsamer geht und die beiden Punkte stehen läßt, wo Gott will; und dieses gehört für die Philosophen, diese haben nun gefunden, daß es am besten ist, daß man zugleich botanisieren geht, zickzack, hier versucht, über einen Graben zu springen und dann wieder herüber, wo es rein ist und es niemand sieht, einen Purzelbaum wagt und so fort.“

Wir sehen, der Berg zwingt uns Umwege auf, kleine oder große Bögen sind bisweilen unvermeidlich. Die hohe Kunst, der Leidenschaft zum einen zu folgen und ihr gleichzeitig zu widerstehen, ist die Hangschrägfahrt.

Die Hangschrägfahrt

Die Hangschrägfahrt bereitet in der Regel keine größeren Schwierigkeiten. Wichtig ist lediglich die Belastung nur eines Skis, des Talskis, und eine ausreichende Vorlage nebst leichter Vorstellung des Bergskis.

Auf weitschweifige Ausführungen sei verzichtet. Jeder Lernende wird die Erfahrung machen, daß bei Nichtbeachtung dieser Regeln er entweder die Zuneigung des Berges zu stürmisch erwidert oder ihm das Material vorauseilt.

Nachdem wir die Hangschrägfahrt als Möglichkeit kennengelernt haben, sich bewußt von einem Ziel zu entfernen, um sich gleichzeitig um so leichter und ungefährdeter ihm nähern zu können, gehen wir über zur Kurve. Diese ist geeignet, unseren Unternehmungen Harmonie und Ästhetik zu verleihen.

Die Kurve

Zum Wesen der Hangschrägfahrt gehört ein nahezu stabiles Verhältnis zwischen den physikalischen Kräften, Trieben und Widerständen, die auf uns wirken. Beim Kurvenfahren lernen wir den spielerischen Umgang mit ihnen. So banal es klingen mag, verliert es dennoch nicht an Wahrheit, daß die größte Schwierigkeit beim Kurvenfahren darin besteht, permanent die Richtung zu ändern. Diese ungeheure Aufgabe versetzt den Neuling meist in Angst und Schrecken. Völlig aufgelöst oder verhärtet und verkrampft, glaubt er selbst nicht an ein Gelingen.

Der aufmerksame Leser wird vielleicht jetzt ahnen, daß wir kurz den Bereich des Religiösen streifen müssen. Zuerst einmal also - müssen wir glauben. Der Glaube ist mit dem Erfolg zwar nicht identisch, aber eng mit ihm verknüpft. Das Beugen der Knie kann als demutsvolle Geste vor der Größe der bevorstehenden Aufgabe gedeutet werden. Sich auf nicht vorhandene Beine stellen zu wollen, ist eines der gefährlichsten Abenteuer.

Dynamisch, ohne uns in der eigenen Spannung zu bremsen, schnellen wir hoch und überlassen uns dem erhebenden Gefühl der Freiheit. Wir überlassen uns dem freien Spiel der Triebkräfte. Wir fühlen uns wie die Brechtsche Wolke: ungeheuer oben. Wir haben kein Ziel - wir sind es.

Bei all dieser Glückseligkeit dürfen wir aber nicht vergessen, daß dieser einzelne Höhepunkt nicht Ziel, sondern nur Meilenstein auf unserem Weg ist. Falls der Herr uns während dieser Überlegungen nicht schon zu sich geholt hat, sollten wir nun daran denken, wie es weitergeht. Wir belasten das andere Bein und tun das genaue Gegenteil des Vorherigen. Wir streben nicht weiter nach oben, sondern lassen uns in Richtung der Fallinie fallen. Es spricht zunächst einmal nichts dagegen, sich diesem Zustand ebenso wohlig zu überlassen wie dem vorigen, denn: „Du weißt niemals, was genug ist, wenn Du nicht was mehr als genug ist weißt“ (William Blake).

Ermutigen sollte uns gegenüber allen verächtlichen Blicken die Meinung Adornos: „Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabe gesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in der der Erliegende sich wiederfindet.“

Wir haben nun Zeit, uns an Ludwig Hohl zu erinnern, der weitblickend darauf hinweist: „Das Unglück allein ist noch nicht das ganze Unglück. Frage ist noch, wie man es besteht. Erst wenn man es schlecht besteht, wird es ein ganzes Unglück.“

Mit Erfahrung ausgerüstet, sind wir nun überzeugt, daß es, um unnötige Konfrontationen und Erschütterungen zu vermeiden, sinnvoll ist, einen Extremzustand möglichst sanft und rund wieder in einen vielleicht langweiligeren, jedoch sichereren Zustand zu wenden. Faulheit und Eleganz gehen hier eine glückliche Verbindung ein. Durch Belastung des Vorderskis und leichten Druck auf den hinteren Teil erreichen wir nahezu mühelos das Gewünschte, welches sonst, zum Beispiel bei Rücklage, nur durch hartnäckiges Stemmen gegen die Verhältnisse zu erreichen wäre.

Nach erfolgreicher Kurvenfahrt unten am Hang angelangt, besteigen wir wieder den Lift. Während der Fahrt haben wir Muße, in einem Büchlein Camus‘ zu blättern und lesen dort: „Ich verlasse Sisyphos am Fuße des Berges! Seine Last findet sich immer wieder. Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“