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Schießausbildung in Wuppertal

■ Hunderte von Deserteuren im März 45 in der Wuppertaler Sagan-Kaserne hingerichtet? Eine Initiative setzt sich für ein Mahnmal auf dem Kasernengelände ein

Verläßt man den Talkessel von Wuppertal, um auf die grünen Südhöhen der Stadt hinauszufahren, dann führt die Straße minutenlang an den Gebäudekomplexen der Colmar-, der Generaloberst-Hoepner- und der Sagan-Kaserne vorbei. Sichtschutzmauern rechts und links der Fahrbahn nehmen den Blick auf die hier stationierten Lance-Kurzstreckenraketen, auf Pionierbataillone und Panzergrenadiere. Nur einmal im Jahr öffnen sich die Kasernentore zum „Tag der offenen Tür“. Dann finden Führungen im Kasernenbereich statt.

Ein Ort auf dem Gelände wird dabei nicht besucht: der Ausbildungsschießplatz der Sagan-Kaserne. Hier wurden, wie jetzt bekannt wurde, noch Ende März 45, als der Krieg längst verloren war, Hunderte von Jugendlichen Deserteuren wegen angeblicher „Fahnenflucht“ erschossen. 44 Jahre danach interessiert das in Wuppertal niemanden mehr. Nur eine kleine Gruppe um den engagierten Maler Gerd Jentgens, die sich mit der Geschichte der Kaserne beschäftigt, möchte die Erinnerung wachhalten. Wuppertals SPD-Regierung unter Oberbürgermeisterin Ursula Kraus dagegen - von der Gruppe um Unterstützung gebeten - zieht Schweigen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vor: Das gute Verhältnis zur Bundeswehr, die das Gelände heute nutzt, könnte getrübt werden.

Der Wuppertaler Maler und Bildhauer Ernst Gerd Jentgens hat zuerst in Amerika von Wuppertals Geschichte erfahren. Im Januar 1988 wurde er dem inzwischen in Kansas lebenden Professor Karl H. Schlesier vorgestellt. Als dieser von Jentgens Wohnort hört, sagt er: „Wenn ich Maler in Wuppertal wäre, dann wüßte ich, was ich zu malen hätte“, und erzählt die Geschichte, die er in einem Brief an Jentgens auch noch einmal schriftlich niederlegt.

Schlesier, 1927 in Düsseldorf geboren, wird im Februar 1945 als 17jähriger in die Sagan-Kaserne eingezogen. Zu seiner Ausbildung als Grenadier im „E. und A. Bataillon 464, 1. Kompanie“ gehört auch das Schießen mit Gewehr und Maschinengewehr. Über diese Zeit schreibt Schlesier in seinem Brief:

„Sowohl aus unserem Bataillon als auch benachbarten Ausbildungsgruppen liefen ständig Jungen fort. Sie sind einfach nach Hause gegangen und dort drei Tage später von der Feldpolizei verhaftet worden. Wir konnten damals Tag und Nacht im Westen den Kanonendonner der vorrückenden Front hören. Die Jungen wurden als Deserteure behandelt und kurzerhand erschossen: Ob es überhaupt Verhandlungen und Urteile gegeben hat, ist ungewiß. Die Erschießungen wurden auf unserem Ausbildungsschießplatz vorgenommen. Die Exekutivkommandos bestanden aus Abkommandierten desselben Zugs der Kompanie, dem auch der zu Erschießende angehörte wohl zur Abschreckung.

Ich war von Mitte Februar bis Mitte März 1945 in der Sagan -Kaserne, und täglich sind 17jährige erschossen worden. Wir alle wußten davon. Jeder von uns hat einige Exekutionen mitansehen müssen; viele waren gezwungen mitzuschießen. Übungsschießen und Exekutionen fanden nebeneinander auf demselben Schießplatz statt.“

Die Erzählung Schlesiers deckt sich mit den Aussagen einiger Zeitzeugen. So berichtete eine Anwohnerin der am Kasernengelände vorbeiführenden Jägerhofstraße, daß es eines Abends im März 45 während eines Luftschutzalarms an ihrer Kellertür geklopft und gerufen habe: „Laßt mich rein. Wenn die mich erwischen, bringen sie mich um.“ Die Familie nahm den Deserteur auf, verpflegte und beköstigte ihn, bevor er weiterfloh. Sein Schicksal ist unbekannt.

Die Sekretärin des inzwischen verstorbenen katholischen Stadtdechanten, der zugleich Standortpfarrer war, erinnert sich außerdem, daß ihr Chef gerade in dieser Zeit oft in die Kaserne gerufen wurde - als geistlicher Beistand der Todeskandidaten. Überprüfen läßt sich diese Aussage nicht mehr: Das Archiv der Katholischen Gemeinde Wuppertal ist für die Jahre 1933 bis 45 völlig leer.

Jentgens empfand die Erzählung des amerikanischen Professors als Auftrag. In seinem Atelier entstanden in den folgenden Wochen und Monaten insgesamt 21 Bilder mit demselben Motiv in verschiedenen Variationen. Seine breiten expressiven Pinselstriche zeigen in violetten Tönen immer wieder den erschossenen Deserteur, dem die Arme über dem zusammengesunkenen Körper an den Hinrichtungspfahl gebunden wurden. „Jedes dieser Kinder ist seinen eigenen Tod gestorben. Das kann man nicht mit einem Bild abhaken“, kommentierte er sein Werk, das im Rahmen eines lokalen Kirchentags ertmals öffentlich gezeigt wurde. Interesse fand es nicht. Ganze sechzig Besucher sahen die Bilder innerhalb einer Woche, und die in Wuppertal erscheinende konservative 'Westdeutsche Zeitung‘ verweigerte die Berichterstattung.

In den vergangenen Wochen aber kommt Bewegung in die Angelegenheit. Nach einer demonstrativen erneuten Ausstellung der Jentgens-Bilder in der Evangelischen Studentengemeinde wird sich eine Forschungsgruppe an der Wuppertaler Gesamthochschule mit der Thematik befassen. Geschichtsprofessor Günther van Norden will mit einigen Studenten Kontakt zu Professor Schlesier und zum Freiburger Militärarchiv aufnehmen. Wenn sich bei diesen Recherchen die vorliegenden Informationen bestätigen, und damit ist zu rechnen, muß sich dann auch endlich die sonst so traditionsbewußte Bundeswehr mit der Vergangenheit ihrer Kaserne beschäftigen.

Denn die Gruppe um Ernst Gerd Jentgens hat für diesen Fall auch schon ihre erste Forderung bekanntgegeben: Ein Denkmal soll auf dem Bundeswehrgelände an die ermordeten Deserteure erinnern.

Stefan Koldehoff

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