: Vom Nachttisch geräumt: RUHE
Marina Zwetajewa, eine der bedeutendsten Lyrikerinnen dieses Jahrhunderts, hat auch großartige Essays geschrieben. Ein paar davon sind jetzt bei Suhrkamp erschienen. In einem aus dem Jahre 1926 schreibt sie sehr einprägsam über die vornehmste Pflicht des Kritikers, „selbst keine schlechten Verse zu schreiben“ und fügt dem mit koketter Präzision hinzu: „Zumindest - sie nicht zu drucken.“ Der Aufsatz „Der Dichter über die Kritik“ lebt von diesem Ton, charmiert durch ihn. Lässig spielt Marina Zwetajewa ihre Überlegenheit aus. Sie warnt mit freundlicher Ironie die Vertreter unserer beckmessernden Profession davor, sich durch schlechte Produkte zu blamieren, tut das so elegant, daß ihre Prosa sogar Merksprüche verträgt, die anderswo - z. B. hier ungelenk wie steinerne Gäste wirken: „Richter, richte dich selbst!“. Sie erinnert an Sainte-Beuve, dessen Größe - so läßt sie durchblicken - weniger in seinen kritischen Aufsätzen als vielmehr in der Tatsache, daß er das Dichten aufgab, liege. Kleine, elegant ausgeteilte, exakt ins Herz treffende Hiebe. Daneben eine winzige, vierzig Zeilen kurze Abhandlung daüber, warum man „mit trockener, frech-sich -überschlagender Stimme“ nicht sagen kann. Vierzig Seiten hat der Essay, kurz, aber doch ganz ohne Hast, ohne dieses jappende Geschnaufe, was manchen noch immer als der Rhythmus der Moderne scheint. Marina Zwetajewa schafft Ruhe auf kurzem Raum. Eine ganz und gar unfeierliche Ruhe, eine ironische Serenität, die ihre Spitzen genau setzt. Wer das Schreckliche als Anekdote liebt, wird ihre Erinnerungen an Andrej Belyj, ihre Beschwörungen von Andrej Belyi, lesen: Ein Restaurant am Prager PLatz in Berlin. Um Ilja Ehrenburg Verleger und Autoren. Es geht um Manuskripte, Honorare. Dann kommt Belyj, der Erleuchtete, erkennt Marina Zwetajewa, begrüßt sie und sieht sich gleichzeitig um nach den Verfolgern der Dichter, nach den männlichen Erinyen der neuen Gesellschaft, den Vertretern der bolschewistischen Geheimpolizei. „Ein gefangener Geist“ hat sie ihren Belyj -Essay überschrieben.
Marina Zwetajewa, Ein gefangener Geist, Fünf Essays, aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Klein, Suhrkamp-Verlag, 289 Seiten, 16,80 DM
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