: Uferlose Möglichkeiten für die Polizei
Interview mit W. Helbig, Richter am Landgericht München, zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz ■ I N T E R V I E W
taz: Innenminister Stoiber (CSU) hat betont, daß nicht die Polizei, sondern der Richter über den Unterbindungsgewahrsam entscheidet. Ist das stichhaltig?
W. Helbig: Nein, zwar müssen die Betroffenen innerhalb 48 Stunden vorgeführt werden und der Richter entscheidet, der, was die Verdachtsmomente betrifft, auf die Polizeiangaben angewiesen ist.
Welche Überprüfungsmöglichkeiten hat der Richter?
Diese Überprüfungsmöglichkeiten etwa im Gegensatz zur Untersuchungshaft habe ich als Richter nicht, wo ich über die Staatsanwaltschaft Ermittlungen anstellen lassen kann. Ich kann nur entscheiden, ob die vorgelegte Beweisaufnahme ausreicht.
Die bayerische Staatsregierung behauptet, durch den umstrittenen Kriterienkatalog werde der Einzelentscheidung des Richters nicht vorgegriffen.
Der Katalog zielt darauf ab, die bisher der Staatsregierung nicht genehmen richterlichen Entscheidungen in eine „ingewahrsamnahmefreundliche“ Richtung zu lenken. In der offiziellen Begründung des Gesetzentwurfs wird ausdrücklich erwähnt, daß es bisher so „dumme“ Richter gibt, die den Beschuldigten glauben und die den Umstand, daß jemand Begleitperson ist von einem der Waffen oder ähnliche Gegenstände dabei hat, nicht als ausreichend für eine Gewahrsamnahme angesehen haben. Man will einfach die Anforderungen, die bisher an diese Anordnung gestellte wurden, herabsetzen. Auch für die Polizei. Ihre Eingriffsschwelle wird dadurch erheblich herabgesetzt.
Was ist nach dem 1. April?
Für mich ist dies auch ganz gezielt eine „Lex Wackersdorf“. Wackersdorf wird in der Begründung ausdrücklich erwähnt. Der 100. Geburtstag Hitlers ist nur eine Ummäntelung. Also gehe ich davon aus, daß bei der nächsten Demonstration ein Exempel statuiert wird mit einer großen Zahl von Ingewahrsamnahmen.
Sehen Sie in dieser Verschärfung einen Schritt in Richtung Polizeistaat?
Das kann man durchaus so sagen, wenn man den politischen Beigeschmack des Begriffs Polizeistaat einmal wegläßt. Das Gesetz gibt der Polizei ein erhebliches Maß an Übergewicht im Bereich der Strafverfolgung und im Verhältnis zur Justiz. Da die Polizei eindeutig die Voraussetzungen bestimmt und die richterliche Kontrolle nur marginal sein kann. Das bedeutet: Die Möglichkeit des Freiheitsentzugs, die bisher fast ausschließlich der Justiz vorbehalten war, wird in erheblichem Maße in die Hände der Polizei gelegt.
Interview: lui
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