Nur noch risikoschwanger

■ Pränatale Diagnostik verändert Schwangerschaft / Journalistin Eva Schindele: Frauen richtig beraten, nicht Humangenetische Beratungsstellen verbieten

taz: Wie stehtst Du zu der Forderung nach Verbot der humangenetischen Beratungsstellen, die von den Krüppelgruppen und auch im Unistreik aufgestellt worden ist?

Schindele: Die Forderung geht vollkommen am Stand der Pränataldiagnostik vorbei. Denn die Fruchtwasserunterschung (Amniozentese) ist von der humangenetischen Ausnahmeuntersuchung (in erbkrankheitsbelasteten Familien, U.S) mehr und mehr zur Routineuntersuchung der normalen Schwangerenvorsorge geworden. Normal läuft das so: Du gehst zum Frauenarzt, bist über 35 und der sagt Dir, gehen Sie mal zur Fruchtwasseruntersuchung, ich geben Ihnen die Überweisung und sagt vielleicht noch dazu: Es ist sinnvoll, wenn Sie kein behindertes Kind wollen. Dann läßt die Frau z.B. in der St. Jürgen-Klinik diesen Eingriff machen und wartet vier Wochen ob es guter oder nicht guter Befund ist. In der BRD ist es inzwischen so, daß 10 % aller schwan

geren Frauen zur Fruchtwasse runtersuchung gehen - 75 % davon waren über 35 Jahre, aber man kann einen steigenden Anteil sog. Angstindikationen feststellen. (wo die Initiative nicht vom Arzt ausgeht sondern von der Frau, U.S.).(...) Die Angst ist z.T. eine gemachte. In den USA, wo die Amniozentese schon ab 32 Jahren die Regel ist, da haben alle Frauen über 32 schreckliche Angst. Hier ist 35 die magische Grenze 35, also schreckliche Angst über 35, in Frankreich ist die Grenze bei 38, und alle Frauen ab 38 haben schreckliche Angst. Und wenn Du die Amniozentese nicht machen lassen willst, so wie es bei mir war, dann mußt Du bei dem Arzt unterschreiben, daß Du das Risiko voll auf Deine Kappe nimmst, (d.h. Verzicht auf Klage, U.S.). Das wirkt enorm angststeigernd, auch bei mir, die ich mich lange damit beschäftigt habe.

Und: den Frauen ist überhaupt nicht klar, daß es mit einer Abtrei

bung im 6. Monat verbunden ist. Bei den meisten Frauen gibt es ja keinen Befund, aber wenn die Frauen sich dem unterwerfen, dann fangen sie praktisch erst an, im 6. Monat schwanger sich schwanger fühlen zu dürfen, verstehst Du, was das für die Schwangerschaft bedeutet!

(...) Im Prinzip geht es darum, daß die ganze Schwangerschaft, natürlich auch die schwangere Frau, immer mehr in den medizinischen Griff genommen wird. Und der Hebel dafür ist die Angst. Ich denke, daß dadurch, daß Schwangerschaft immer mehr zum Risiko geworden ist, auch die Angst immer mehr zugenommen hat. Schwangerschaftsvorsorge ist so sehr auf das Risiko orientiert und geht nicht mehr auf den natürlichen Prozeß ein. Und die Durchleuchtung des Embryo und der Gebärmutter auf Risikofaktoren wird zunehmen, je mehr das Erbgut entschlüsselt worden ist und auch diese Gentests so einfach geworden sind, daß man sie

auf alle Schwangeren anwenden kann.(...) Es gibt schon jetzt Zahlen aus Niedersachsen, wonach 80 % aller Schwangerschaften „Risikoschwangerschaften“ waren.

Was wäre zu tun?

Schindele: Es wäre ganz wichtig, daß es eine Stelle gibt in Bremen, die ein Ort der Information ist. Wo Frauen mit ihren Fragen und mit ihren Entscheidungskonflikten hingehen können, wo sie Information, auch Daten bekommen, vor allem aber überhaupt mal darüber sprechen können. Es geht um Beratung, die nicht in erster Linie auf Risiko und Risikovermeidung ausgerichtet ist, sondern auf den normalen Schwangerschaftsverlauf. Dafür ist die Humangenetik mit ihrer Ausrichtung auf prophylaktische Verhinderung völlig ungeeignet. Diese Beratung muß auch raus aus den Arztpraxen, sie muß öffentlich werden, denn es geht uns doch alle an, nicht nur die Frauen über 35.

Interview: Uta Stolle