: Schwalbe abgestürzt
Die DDR-Preisträger des „Literarischen März“ über Deutsch-Deutschland ■ I N T E R V I E W
taz: Schade, in Darmstadt fand eine Literarische Diskussion nicht statt...
Rainer Schedlinski: ...auch über Lektorat und Jurierung nicht. Hier war erstaunlich viel Seichtes und Gelalle bei.
Heißt das, die bundesdeutsche Lyrik hat Euch enttäuscht?
Kurt Drawert: Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber sie hat wenig überzeugt. Das hat mich überrascht. Da ist ein Hang zum Kunstgewerblichen und zum Redundanten in der Information, eine Auswechselbarkeit der Formulierungen. Man hat mitunter das Gefühl, daß mancher Text nicht notwendig war oder wäre. Er präsentiert keine Spannung. Als stünde die Existenz nicht unter Spannung, die es nötig macht, sie literarisch zu transportieren! So entstehen Gedichte, die stehen können, aber nicht stehen müssen.
...oder widerstehen müssen. Glaubst Du, hier haben sich zwei deutsche Sprachen in der Lyrik präsentiert?
Drawert: Vielleicht gibt es in der DDR ein anderes Herangehen an Sprache. In der DDR ist ein anderes lyrisches Reden an der Tagesordnung, ein Sprechen, das herausfordern kann, Themen zu verlassen zugunsten einer Autonomie der Sprache. Da hebt sich die Lyrik der letzten fünf oder zehn Jahre doch stark von der bundesdeutschen ab, die einen starken Sachbezug hat. Und soziale und gesellschaftliche Umstände prägen die Autoren gewiß auch, das müßten Professoren einmal untersuchen...
Rainer Schedlinski: Der Unterschied ist, daß bei uns die Lyrik kein Vertrauen in die Sprache hat. Der Staat, die Medien haben die Begriffe besetzt. Lyrik versucht, Sprache zu befreien, kämpft darum. Dagegen ist in der bundesdeutschen Lyrik nicht viel passiert. Die ist nur formal modern. Im alten Gedicht flog die Schwalbe über den Wald, jetzt fliegt die Schwalbe übern Müllhaufen, fliegt aber immer noch, da ist nichts reformiert. In der DDR ist die Schwalbe abgestürzt.
Durs Grünbein: Die bundesdeutsche Lyrik zeigt vielfach keinen Zwang mehr zur Erkenntnis. Poesie und Idee fallen auseinander, und es steckt viel Beliebigkeit drin. Symptomatisch: Marcel Reich-Ranicki hat hier einen Vortrag gehalten über seine Lieblingsgedichte von Goethe bis Ulla Hahn, da war Hölderlin nicht drin.
Ist denn DDR-Lyrik, die sich hier präsentieren konnte, repräsentativ für moderne Lyrik, die zur Zeit in der DDR entsteht? In der 'Jungen Welt‘ stehen häufig ziemlich langweilige Texte.
Kurt Drawert: Aber dieser Trend ist unweigerlich da. Sechs, sieben Autoren würden mir auf der Stelle einfallen, die hier mit großem Erfolg lesen könnten. Sicherlich gehören Bert Papenfuß-Gorek, Stefan Döring, Jan Faktor, der Leipziger Bernd Igel oder auch Thomas Rosenlöcher dazu und noch einige andere auch.
Ihr habt ein Protestschreiben an Kurt Hager gegen Lutz Rathenows Ausreiseverbot mit unterschrieben...
Kurt Drawert: Ja, das ist so abgefaßt, daß man als ethisch empfindender Mensch gar nicht anders kann als mitzuunterzeichnen, gerade als Dichter, auch wenn man die Sache mit Rathenow sonst ziemlich zum Kotzen findet. Doch es geht ums Prinzip.
Rainer Schedlinski: Denn wieder macht die DDR eine literarische Diskussion vollkommen unnötig zum Politikum. Sollten sie ihn doch fahren lassen, dann werden endlich normale Maßstäbe angesetzt.
Interview: Holger Eckermann
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