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„Das undemokratische Wahlgesetz ändern“

JournalistInnenfragen an Boris Jelzin vor dem Wahllokal  ■  Sehen Sie sich als

künftiger Führer einer

parlamentarischen Opposition?

Boris Jelzin: Ich glaube nicht, daß der Begriff Opposition für unser System paßt. Eher werden sich die Deputierten gruppenweise um Programmpunkte formieren, in denen sie mehr oder weniger übereinstimmen - zum Beispiel in sozialen Fragen. Mit Pluralismus verbinde ich die Vorstellung, daß es solche Gruppen von zwei- bis dreihundert Abgeordneten geben wird, die gemeinsam ganz bestimmte Interessen vertreten. Haben Sie nicht gesagt,

daß es zwei Parteien geben sollte?

Nein, ich habe nur von einer Möglichkeit gesprochen, die ich nicht ausschließen will. Zuerst einmal muß es eine breite Diskussion darüber geben, dann muß das Volk entscheiden. Dazu muß man die Presse öffnen, die Forderung nach einem Pressegesetz ist ja einer meiner ersten Programmpunkte. Was denken Sie

über die Anti-Jelzin

Kommission des Politbüros?

Sie hat mit mir keine Verbindung aufgenommen, wahrscheinlich arbeitet sie im Untergrund - offensichtlich ein Versuch, die Wahl zu beeinflussen. In der ganzen Parteigeschichte gibt es keinen Präzedenzfall für eine solche Kommission, die sich lediglich mit einem Menschen beschäftigt. Meinen Sie, daß

Ligatschow dahintersteckt?

Er ist in dieser Angelegenheit nicht aufgetreten. Aber ich glaube, das Abstimmungsergebnis über die Einrichtung der Kommission ist so nicht ohne ihn entstanden. Sind Sie einverstanden,

daß künftig jedes Jahr zwan

zig Prozent der Abgeordneten des

Obersten Sowjets rotieren sollen?

Diese Vorschrift gefällt mir nicht besonders. Denn es ist überhaupt nicht klar, welche zwanzig Prozent da ausscheiden sollen. Etwa die Störenfriede und die Unbequemen? Überhaupt muß das Wahlgesetz verbessert werden, schon die jetzige Wahlkampagne hat gezeigt, daß es undemokratisch ist. Ich bin für allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlen. Aber der Oberste

Sowjet wird jetzt erst ein

mal für fünf Jahre gewählt sein.

In diesen fünf Jahren muß man eben für eine Änderung kämpfen. Was sagen Sie zur friedli

chen Nutzung der Atomenergie?

Vorläufig kommen wir ohne sie nicht aus, aber man muß hier absolute Sicherheit anstreben. Ohne hundertprozentige Sicherheit darf es keine Nutzung der Atomenergie geben. Eine andere Frage ist die des Standorts. Man muß schon ganz schön bescheuert sein, um Atomkraftwerke auf der Krim oder in einem erdbebengefährdeten Gebiet zu bauen.

BK

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