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Barden in Bengalen

■ Auf der Suche nach seiner indischen Identität zieht der Literat mit Baulsängern übers Land

Alokeranjan Dasgopta BARDEN IN BENGALEN

Auf der Suche nach seiner indischen Identität zieht der Literat mit Baulsängern übers Land

Zum Reisen bin ich meist unverzeihlich faul. Statt dessen lese ich lieber in den Reisebüchern der Pilger aus alter Zeit. Dabei frage ich mich nicht selten: Was von der lebendigen Geschichte - der von ihnen bereisten Orte - ist heute noch übriggeblieben? Der Frage nach einer systematischen Ausplünderung der traditionsreichsten Stätten - durch Kolonialherren oder Touristen - kann ich dabei nicht ausweichen. Instinktiv suche ich nach einer Entschädigung und bin jähzornig und deprimiert. Da sich aber bekanntlich durch derart subjektives Abreagieren überhaupt nichts ändert, verfalle ich immer wieder auf die fabelhaft snobistischen Zeilen von Bert Brecht, die ich mir längst zu eigen gemacht habe: Ich habe gewußt, daß Städte gebaut wurden / Ich bin nicht hingefahren. / Das gehört in die Statistik, dachte ich / Nicht in die Geschichte. Brecht fügt dann noch rechtfertigend hinzu: Was sind schon Städte gebaut / Ohne die Weisheit des Volkes?

Es ist diese Weisheit des Volkes, die mich ab und zu noch dazu provoziert, meinen Zimmerwinkel zu verlassen und dann auf den Strecken zu trecken, wo Menschen mit Menschen ein Stück Bewußtseinsgeschichte mobil mythologisieren. Diesen Aufhänger benötige ich unbedingt, um die mir angeborene Reiselethargie abzuschütteln. Überrascht stelle ich dann fest, daß sich hin und wieder um mich herum eine Reisegesellschaft bildet, die mich formt. Wie ist es möglich, daß meine innere Vorbereitung auf solch eine Reise auf eine kollektive Entsprechung stößt? Ohne dafür eine Antwort zu finden, bereite ich mich aufs neue vor, wobei ich mündliche und schriftliche Materialien sammle. So kam es, daß ich in letzter Zeit gelegentlich mit einigen Baulsängern durch die Dörfer Bengalens zog. Diese Exkursionen hatten den Charakter, die Suche nach meiner indischen Identität zu intensivieren.

Hintergrund und Kontinuität

Die Baulbewegung ist ein bengalisches Phänomen. Überall in Westbengalen und Bangladesch begegnet man den von Ort zu Ort ziehenden Baulsängern. Ihre Tanzlieder können als esoterisch subversive Spirituals bezeichnet werden. Das Wort Baul bedeutet „verrückt“. Je mehr die Bauls von der mittelalterlichen Gesellschaft Ostindiens als „Rasende“ abgestempelt wurden, um so stärker haben diese von Gott trunkenen Mystiker ihre Außenseiterrolle betont.

Dabei lehnten sie alle Einrichtungen der institutionalisierten Religion ab und schufen eine säkulare Symbiose zwischen hinduistischem und islamischem Glauben durch ihre innere Religiosität. Das ist bis heute erhalten geblieben. Der Sufismus, der Goethe zu seinem West -Östlichen Divan anregte, spielt im Baulglauben die Schlüsselrolle. Er durchdrang als ein unorthodoxer Kult des Protestes gleichzeitig die höfischen wie auch die volkstümlichen bengalischen Gesellschaftsschichten. Die Sufibewegung gewann an Schwung, als sie mit Menschen außerhalb des Hofes in Berührung kam. Die Sufi-Heiligen wurden derart populär, daß sie in den beliebten Fährmannsliedern besungen wurden. Schritt für Schritt wurden die Sufi-Motive wie dhikr (sich Besinnen), fana (göttliche Verzückung), sama (geistiges Hören) und murshid (mystischer Wegweiser) von den Bauls spontan übernommen. Auch Tantra entwickelte sich weiter in das dynamische Credo der Bauls hinein. So halten die Bauls bis heute an gewissen tantrischen Praktiken fest mit dem Ziel, das Mysterium des menschlichen Körpers auf der Basis der Mann-Frau-Partnerschaft zu verstehen. Ein echter Baul glaubt, daß sein Guru den Befreiungsprozeß der geistigen Energie im Körper seines Anhängers kanalisieren kann, und zwar von der niedrigen psychischen Ebene durch die dreifachen Nervenströme hin zu dem tausendblättrigen Lotus in der Hirnrinde. Diese Vorstellung, zusammen mit seinem empirischen Drum und Dran, führt zu einer Mischung von Billigung und Verneinung des Körperlichen. Die ambivalente Haltung der Bauls zur Ehe muß hier erwähnt werden: Zwischen den Partnern wird eine Art Rosenkranz ausgetauscht - diese Bindung kann jederzeit gelöst werden. In dieser freien Ehe besingt der Baul den menschlichen Körper, weil dieser - mit seiner Vergänglichkeit - das ganze Universum im kleinen darstellt.

Für einen Baul ist sein Guru von größter Bedeutung. Er ist nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein praktischer Helfer, der seinem Schüler bei allen schwierigen Erfahrungen beisteht. Ein fortgeschrittener Schüler aber wird seinen Guru als Gegenspieler behandeln, indem er ihn mit seinen Liedern herauszufordern sucht. Daraus entsteht ein spannender Monolog, weil hier der Schüler in Rätseln redet, dem Guru widerspricht, ja ihn anklagt, ohne ihm Gelegenheit zu geben, eine defensive Stellung zu beziehen.

Instrumente und Bekleidung

Die Baulsänger benötigen ein einsaitiges (Ektara) oder ein zweisaitiges (Anandalahari) Zupfinstrument. Die jeweils unterschiedlich stark gespannten Saiten ermöglichen eine weite Skala der Tonfolge. Sie benutzen außerdem kleine Kesseltrommeln (Dugi) sowie Fußglocken (Nupur), um den Rhythmus hervorzuheben. Eine typische Baulantwort auf die Frage: „Warum hängt ihr überhaupt von Instrumenten ab?“ ist: „Der Vogel möchte höher und höher fliegen, doch braucht er einen irdischen Halt für seine Rückkehr.“ Diese Erkenntnis rechtfertigt den Einsatz der Baulinstrumente. Die melodische Struktur des Baulgesanges erlaubt es dem Sänger, seine Stimme - auch ein Instrument - scharf zu steigern oder entsprechend abzuschwächen. Der einprägsame Refrain der Lieder führt den tanzenden Sänger zur Ekstase. Die häufige Rückkehr zum Kehrreim ist charakteristisch für seine mystische Neigung.

Ein Baul trägt in wohlbedachter Nachlässigkeit sein Alkhalla, ein ockersafranfarbenes Vagantenkleid aus rohem Stoff. Gelegentlich schmückt er sich auch mit bunten Tüchern. Dieser Declasse-Stil der Kleidung ist nicht ohne Bedeutung. Er erinnert an das symbolische Sufi-Kostüm, welches Askese andeutet.

Begegnungen und Reisen

Meine erste Zufallsbegegnung mit einem Baul fand in Santiniketan, dem von Rabindranath Tagore gegründeten Universitätsdorf, statt. Ich kann mich heute noch deutlich daran erinnern, wie an einem Monsunmorgen plötzlich ein buntbekleideter Wandersänger an unserer Veranda auftauchte und uns dort seinen Liederzyklus tanzend vortrug. Ich war fasziniert und wollte wissen, woher er kam. Über seine Herkunft wollte er keine Auskunft geben. Ich brachte dann doch aus ihm heraus, daß er über 30 Meilen zu Fuß gegangen war, um nach Santiniketan zu kommen, und daß er sich diesen langen rotstaubigen Weg mit seinen Liedern verkürzt hatte. Schon damals ahnte ich, daß seine Angabe kein billiger Selbstdramatisierungsversuch war. Heute noch, so viele Jahre später, hat sich bei meinen mehrmaligen Wanderungen mit solchen Sängern die Überzeugung gefestigt, daß diese reisenden Barden für mich die eigentlichen Reiseführer durch meine indische Geschichte sind.

Vor kurzer Zeit reiste ich mit drei Bauls, die inzwischen meine Freunde geworden sind, entlang dem Fluß Rupnarain, unweit von Kalkutta. Wir starteten in Tamluk, welches einst der Hafen der Buddhisten schlechthin war. Auf unserem Weg unterhielten wir uns bedrückt darüber, daß es heute dort keinen einzigen Buddhisten mehr gibt. „Wohin sind sie alle gegangen?“, so fragte mich einer meiner Begleiter. Ich vermied eine unmittelbare Antwort und sagte scheinpedantisch: „Der chinesische Pilger Fa-hsien schiffte sich von hier aus nach Sri Lanka ein. Das war aber schon vor mehr als fünfzehnhundert Jahren.“ Meine Begleiter schienen sehr beeindruckt und improvisierten sofort das folgende Lied: Einst im goldenen Bengalen / kam der Fa-hsien an / damals gab's kein Flugzeug und keinen Zug / auch keinen Touristenwahn. // Fa-hsien, der hatte es gut / ulkige Kolonialherren / waren noch lange nicht in Sicht / mit komischen Konsumwaren. // Da fuhr Fa-hsien heilfroh / nach Sri Lanka ohne Spesen / Wär er heute noch am Leben / er wär Asylant gewesen. Über die künstlerische Qualität dieses Liedes läßt sich streiten. Aber dies wurde kompensiert durch eine so lebhafte Choreographie, die ich mir nie hätte träumen lassen. Was mich beschäftigte, war die frappierende Kompetenz dieser Barden, alles was unterwegs geschah, in ihr Repertoire einzubeziehen.

Unser Ziel war Diamond Harbour, der Diamanthafen, am Golf von Bengalen gelegen. Weite Strecken gingen wir zu Fuß durch die dicht beieinanderliegenden Dörfchen. In diesen Dörfern übten die kleinen Teestuben am Straßenrand eine enorme Anziehungskraft auf mich aus. Es war natürlich kein Darjeelingtee, der uns dampfend heiß, mit Zucker und Milch gemischt, für ein paar Paise angeboten wurde. Doch zusammen mit den typischen „milkcakes“ war das ein unvergeßlich erfrischender Genuß. Die Nachricht von unserer Ankunft verbreitete sich jedesmal rasch. Im Nu waren die mit Stroh gedeckten winzigen Raststätten von schaulustigen Dorfbewohnern umlagert. Ich fühlte mich eigenartig, als ich feststellte, daß wir hier auf die Einheimischen doch ein bißchen exotisch wirkten. Das Fernsehen hat sich hier noch nicht breitgemacht. Kinohäuser sind meist viel zu weit entlegen. Auf diesen Medienmangel bauten natürlich meine Baulfreunde. Hier konnten sie sich voll in Szene setzen. Und ihre Darbietung war letzten Endes auch nicht gratis, denn wir mußten uns nie nach einer Bleibe umsehen: Mit größter Selbstverständlichkeit drängten uns die vom Geschehen Begeisterten ihre eigenen dürftigen Nachtlager auf. Davon machten wir regelmäßig Gebrauch. Es war also stillschweigend für Kost und Logis gesorgt. An Reis, Fisch, Linsensoße und Gemüse mangelte es nie. Umringt von Jung und Alt saßen wir die willkommenen Fremden - auf dem gestampften Lehmboden, vor uns das Bananenblatt als Teller und der Wasserbecher aus Ton. Ich muß gestehen, es war mir nicht immer geheuer zumute, daß, während wir vier das Angebotene genüßlich verzehrten, unsere Wirte und deren Nachbarn uns nur fröhlich -neugierig zuschauten. Ein Urvers aus dem Upanischaden Zwei Vogelfreunde sitzen auf einem Baum, / der eine frißt die süße Frucht, der andere schaut zu und freut sich hat sich in diesem Lande wieder bewahrheitet.

An Unterhaltung mangelte es uns auf unserer Reise nicht. Kontaktknüpfen war kein Problem. Die Büffeltreiber, die in den kleinen Teichen ihr Vieh zuneigungsvoll badeten, die Frauen, die Heuballen auf dem Haupt nach Hause trugen, die sorglosen Kinder, die uns ein Stück Weges umsprangen - alle machten mit. Am Ende unserer Reise tauchte aber die Frage auf, ob wir ahnungslos an dem Überlebenskampf der uns so vertraut gewordenen Menschen vorbeigegangen waren. Erst in der Nähe der Hafenstadt Canning (nach dem britischen Vizekönig Lord Canning benannt), erlebten wir Reisbauern, die zweifellos unter der Armutsgrenze leben. Das Gespräch mit einem Sozialarbeiter ergab, daß 88,5 Prozent der Bevölkerung dieses Landstrichs ausschließlich von der Landarbeit abhängen; daß aber 50,2 Prozent von ihnen kein eigenes Land besitzen, also mit Lohnarbeit in der Landwirtschaft ihren Reis verdienen. Da aber in dieser Gegend nur einmal Ernte eingeholt werden kann, finden diese Leute nur für vier Monate im Jahr eine sichere Beschäftigung. Den Rest des Jahres schaffen sie sporadisch. Sie gehen in den Dschungel und sammeln dort Honig. Oder sie fischen illegal. Oder aber sie holen Bambusschößlinge und Palmenblätter, aus denen mühsam Handarbeiten erstellt und verkauft werden. Seit einigen Jahren hat die marxistische Regierung Westbengalens ein Gesetz erlassen, demzufolge Landarbeiter, die in drei aufeinanderfolgenden Jahren ein und dasselbe Stück Land bearbeiten, dieses als ihr Eigentum betrachten können. Da ihnen aber das Know-how des Verwaltens eines auf diese Weise errungenen Ackers fehlt, geht das Stück Land meist wieder an den ursprünglichen Großgrundbesitzer zurück.

Auf unserer Rückreise nach Kalkutta - diesmal allerdings mit dem Vorortzug, wollte sich unter uns eine Resignationsstimmung ausbreiten. Aber Binu, der selbststilisierte Guru unserer Musikgruppe, kam schnell zu sich und begann kathartisch zu singen. Es war kein ermunterndes, heiteres Lied, aber es riß die mitfahrenden Mädchen, die zur Arbeit und zum Studium in die Hauptstadt fuhren, mit, und sie stimmten voll in den Refrain ein:

Neben dem Haus des Freundes biegt sich die Palme

im winterlichen Magh fällt die Liebesfrucht

Was hab ich getan, daß mein Freund mich verließ?

Das Feuer in mir ist nicht erloschen

Oh mein Freund, hast du so viel Wut angestaut?

Zusehends wuchs ich zur Frau heran

jetzt verhöhnen mich die Straßenjungen

und sagen ich könne nicht lieben

Auch im Haus der Eltern hab‘ ich keine Ruh

mein Herz schwingt im Monsunwind

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