: Supermacht Nato
Geißler und die Modernisierung der Nato ■ K O M M E N T A R E
Zum 40. Geburtstag der Nato haben Modernisierungskonzepte für das westliche Bündnis Hochkonjunktur. Heiner Geißlers Vorschlag, der Nato den Friedensnobelpreis zu verleihen, ist in dieser Debatte das Tüpfelchen auf dem I und daher mehr als ein verspäteter Aprilscherz.
Die schwindende Akzeptanz von Nato und Bundeswehr in der Bevölkerung, das fehlende Konzept gegenüber den Abrüstungsvorschlägen des Ostens und das Streben nach mehr westeuropäischem und bundesrepublikanischem Einfluß im Bündnis - vor allem diese drei Elemente machen den Hintergrund der Modernisierungsdiskussion aus. Sie verzahnen sich dabei auf widersprüchliche Weise: Einerseits ist die Herausbildung eines europäischen Pfeilers der Nato von den USA im Sinne der Lastenteilung erwünscht, andererseits sägt dieser Prozeß an der ohnehin geschwächten US-Hegemonie in der Globalpolitik.
Ein zumindest glaubwürdig erscheinendes Konzept gegenüber Gorbatschows Politik ist für Bonn besonders aus innen- und ostpolitischen Gründen wichtig - Argumente, auf die die USA nur bedingt Rücksicht nehmen wollen, wie der Streit um den Zeitpunkt der „Modernisierung“ der Kurzstreckenraketen zeigt. Gerade dieses Beispiel macht aber auch deutlich, daß der schwindenden Akzeptanz westlicher Militärpolitik nicht mit realer Abrüstung oder zumindest einem Aufrüstungs -Moratorium begegnet werden soll, sondern daß der alte Kurs nur aufwendiger verpackt werden muß als früher.
Geißler weist zu Recht daraufhin, daß nicht nur das Bedrohungsgefühl gegenüber dem Osten zurückgegangen ist, sondern die Kriegsangst insgesamt. Die Massenwirksamkeit der Friedensbewegung der frühen Achtziger speiste sich in der Tat nur zum geringeren Teil daraus, daß durch Reagans flotte Sprüche der aggressive Charakter der Nato entblößt wurde. Mindestens ebenso bedeutsam war die Angst, neue Raketen „bei uns“ könnten einen sowjetischen Gegenschlag provozieren. Das alte, reaktionäre Feindbild wurde also nur unter neuen Vorzeichen virulent. Dieser doppelte Schwund von Kriegsangst macht es heute schwer, gegen die neue Aufrüstung wieder eine Bewegung zu entfachen.
In dieser ambivalenten Situation ist „Europa“ das Stichwort, um strategische Interessen mit der notwenigen Modernisierung des Images zu verbinden. Geißler fordert es, Dregger spricht es am klarsten aus: „Geben wir diesem Bündnis in Europa ein europäisches Gesicht, dann wird es auch die Sympathie der Jugend gewinnen.“ Europa und Frieden, das sollen Synonyme im öffentlichen Bewußtsein werden publikumswirksames Etikett für eine aufstrebende neue Supermacht. Eine Doppel-Strategie fast ohne Gegner: Sei es bei der SPD, sei es bei den Grünen - alle wollen die Sicherheitspolitik „europäisieren“, sind gegen ein „neues Jalta“, für mehr „Mitsprache“, deutsche zumal. Und alle wollen natürlich den Frieden. Geißler hat wieder einmal den Zeitgeist getroffen.
Charlotte Wiedemann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen