Moloch am Nil

■ Kairo, die ägyptische Hauptstadt. Kairo, die arabische und afrikanische Metropole. Es gibt keine gemächliche Annäherung, kein zaghaftes Herantasten an diese Stadt.

Walter Saller MOLOCH AM NIL

Kairo, die ägyptische Hauptstadt. Kairo, die arabische und afrikanische Metropole. Es gibt keine gemächliche Annäherung, kein zaghaftes Herantasten an diese Stadt.

Wie ein brüllender Banditenhaufen fällt das Städtemonstrum Kairo über den Besucher her. Und wenn der dann zum ersten Mal hilflos in chaotischen Menschenmassen treibt, endlose Blechkarawanen ihm ihre Abgase in die Lungen blasen, Hupen, Tröten und Fanfaren, rhythmisiert durch gellende Pfiffe der entmachteten Verkehrspolizisten, eine gnadenlose Kollektiv -Improvisation aufführen, dann scheint ihm Kairo weit weniger unter dem Zeichen der Pyramiden denn unter dem des Pyramidon zu stehen.

Doch trotz Überbevölkerung und Smog, Armut und Chaos ist Kairo auf den zweiten Blick voll überschäumender Lebensfreude. „Kein Quadratmeter der Erde ist vor Erdbeben sicher“, schreibt Nagib Machfuz, „und trotzdem hört der Tanz und der Gesang nicht auf...“ Dieser Spruch ist die maßgeschneiderte Devise Kairos. Zwar funktioniert nichts richtig in der Metropole. Aber ein echter Kairoer bleibt gelassen. „Malesch“, macht nichts, sagt er, wenn der Verkehr auf Straßen und Gehwegen trotz der neuen U-Bahn wie gewöhnlich zu thrombozytischen Pfropfen erstarrt. „Malesch“, wenn gerade das Telefonnetz kollabiert. „Malesch“, wenn es wieder einmal keinen Strom gibt. Und „Malesch“, wenn der dringend benötigte Beamte wie so oft statt im Büro in der Bar sitzt. „Malesch“, sagt achselzuckend der Kairoer, improvisiert, und irgendwie geht alles weiter. * * *

Freilich, nur selten gleichen sich die Reiseeindrücke der Menschen. Voll auf seine Kosten kam Gustave Flaubert während seines Kairoaufenthalts 1849. Er suchte und fand das Groteske: „Ein Marabut ging splitternackt auf der Straße mit einem Hut auf dem Kopf und einem anderen vor dem Schwanz spazieren; um zu pinkeln, nahm er ihn ab; und die unfruchtbaren Frauen hockten sich unter den Urinstrahl und ließen sich damit übergießen.“ Auch sein Besuch im Kasr-al -Aini-Spital läßt auf merkwürdige Interessen des Dichters schließen: „Hübsche Fälle von Syphilis; im Saal der Abbas -Mamelucken haben manche sie im Arsch. Auf ein Zeichen des Arztes hin stellten sich alle aufrecht in ihren Betten, lösten ihre Hosengürtel und öffneten mit den Fingern den Anus, um ihre Schanker zu zeigen.“ Und den Besuch einer koptischen Kirche im alten Kairo nutzt er, um sich gleichzeitig über Aufklärung und Mystizismus lustig zu machen: „Monsieur de Voltaire hätte gesagt: 'Ein paar böse Spitzbuben, die sich in einer häßlichen Kirche versammelt haben, verrichten ohne Pomp die Riten einer Religion, deren Gebete sie nicht einmal verstehen.'“

Ganz und gar nicht auf seine Kosten kam 1798 Vivant Denon, ein Offizier Napoleons. Vergeblich suchte er in Kairo die Stadt von Tausendundeiner Nacht. „Ich war schon länger als einen Monat in Kairo“, vertraute er seinem Reisetagebuch an, „und sah mich immer noch nach jener prächtigen und heiligen Stadt um, der großen unter den Großen, deren Reiz die Seele lüstern macht. In der Wirklichkeit sah ich nichts, nichts als eine zahllose Bevölkerung.“

Gänzlich anderes weiß 20 Jahre nach Denon der Italiener Giovanni Belzoni zu berichten: „Um zur Zitadelle, der Residenz des Paschas zu gelangen, mußten wir mehrere Hauptstraßen passieren, in denen ein ständiges Menschengewühl herrscht, so daß eben ein Fremder glaubt, daß diese Stadt sehr bevölkert sei. Das stimmt nicht, denn mit Ausnahme dieser Straßen und der Basare ist der übrige Teil der Stadt leblos und leer.“

Vielleicht haben ja die Pyramiden dem ersten modernen Grab und Mumienräuber Belzoni den Blick verstellt. Denn Kairo mag es an vielem mangeln und gemangelt haben. An Menschen indes gewiß nicht. Wie kaum an einem zweiten Ort der Welt scheint in Kairo das Haus nicht Unterkunft der Menschen zu sein, sondern schier unerschöpfliche Quelle, aus der sie immerfort strömen.

Die in Zahlen geleierte Misere des ägyptischen Molochs beginnt daher vor Analphabetismus und Arbeitslosigkeit, Kindersterblichkeit und Korruption stets mit dem Maß der Massen: Zwölf Millionen Kairoer leben gegenwärtig auf den 25 Kilometern von West nach Ost und den 20 Kilometern von Nord nach Süd. Das jedenfalls glauben knausrige Verwaltungsbeamte zu wissen. Mindestens 14 Millionen dagegen vermuten großzügige Volksschätzer. Doch wie dem auch sei, in einem Punkt sind sich alle einig: Es sind zu viele. Viel zuviele.

Im alten Gamaliyya-Viertel stürzen täglich etwa zwei Gebäude ein. „Der ausgehöhlte Sandboden“, sagen die Architekten. „Die Pharaonen bauten für die Ewigkeit, ihre Nachkommen aber, um uns in die Ewigkeit zu befördern“, unken die Scherzbolde. „Sie stürzen einfach unter der Last der Menschen zusammen“, behaupten die Bewohner. Und das ist nicht unbedingt ein Witz. Denn in manchen Vierteln Altkairos wie Muski und al-Khalili oder dem Riesenslum Bab asch -Scharia drängeln sich mit über 150.000 Menschen auf einem Quadratkilometer dreimal mehr Bewohner als auf dem Quadratkilometer Kalkutta. Wie man aber in solchem Gedränge noch überleben kann, das freilich vermag keine Statistik zu verraten. Dazu bedarf es schon der Phantasie des ägyptischen Schriftstellers Yussuf asch-Scharuni.

An irgendeiner Bushaltestelle in Kairo steht wartend ein völlig abgemagerter Mann. „Sie sehen in mir einen Menschen“, spricht er die Umstehenden an, „der zusammengeschrumpft ist. Einst war ich dick und rund. Im Gedränge und Getöse der Stadt aber war ich gezwungen, auf meine Dickleibigkeit zu verzichten, um anderen Platz zu machen und auch, um unter ihnen atmen zu können.“ Fatchi Abd ar-Rassul, der vormals feiste Antiheld aus asch-Scharunis Erzählung Das Gedränge, sucht in der atemberaubend überfüllten Metropole Kairo nach Lebensraum. Doch vergeblich. Seine Existenz ist buchstäblich zu platzintensiv. „Wir haben nur einen Platz zu vergeben“, ermahnt der Schulregistrator Fatchis Vater, „und ihr Sohn braucht zwei.“ Immerfort stößt Fatchi mit seiner Fettleibigkeit an die allzu engen Grenzen der hoffnungslos übervölkerten Stadt. Menschen „schlank wie Zuckerrohr“ seien gefragt, höhnt der Beamte, bei dem sich der Dicke um einen Job bewirbt, „und Sie... Sie sind beinahe wie ein Elefant oder ein Wal.“ In der Kairoer Wirklichkeit ist schlicht kein Raum für Fatchi. Und so flüchtet er in den Wahn. Er magert bis zur Stromlinienförmigkeit ab, steht Tag für Tag an der Bushaltestelle und wartet. Wartet auf einen Platz im Gedränge. * * *

Und da wartet er noch heute. Denn längst hat die Wirklichkeit den Wahn eingeholt. Längst stellt das reale Gedränge von heute das literarische Gedränge von gestern in den Schatten. Drei Millionen Menschen zählte Kairo, als asch-Scharuni es vor mehr als einem Vierteljahrhundert zu Papier brachte. Mit Fug und Recht trägt heute die Metropole ihren Volksnamen „Misr“, der im ägyptisch-arabischen Dialekt sowohl Kairo wie auch Ägypten bedeutet. Scheint doch ganz Ägypten Kairo beim Volksnamen zu nehmen und drauf und dran, sich in Kairo-Ägypten niederzulassen.

Verwundern mag es indes kaum, daß viele Ägypter Kairo mit Ägypten verwechseln. Zu lange und zu einseitig haben die unterschiedlichsten Regierungen des Landes die zentrale Hauptstadt zum zentralistischen Wasserkopf Kairo-Ägypten aufgebläht. Alle wichtigen Behörden, die modernen Kliniken und Krankenhäuser und die überwältigende Mehrzahl der Universitäten, Hochschulen und Industriebetriebe sind im Großraum Kairo konzentriert. Und so geschieht nur, was geschehen muß: Tag für Tag verlassen Tausende von landlosen Bauern und brotlosen Arbeitern die Provinz und ziehen - im Gottvertrauen auf die ägyptische Weisheit: Mistfahrer der Stadt ist besser als Sultan des Dorfes - in die Metropole.

Am Bahnhofsvorplatz Bab al-Hadid, dem Tor des Eisens, wird der dörflerische Flüchtling in der zerrissenen Djellaba zum zerlumpten Haufen. Befremdet sitzen die Ankömmlinge auf ihrer Habe, und befremdlich wirken sie im Zentrum der umtriebigen Metropole. Allzu rasch muß der Traum vom besseren Leben in der Hauptstadt der eisernen Wirklichkeit Kairos weichen. Schon längst ist das Mistfahren fest in Händen der koptischen „Zabbalin“, jener Kairoer Müllsammler, die sich ihre eigene Stadt Manschiet Nasr in den Müllschluchten am Fuß des Mokattam-Felsens gegraben haben. Und längst scheint auch jede andere Wohn- und Arbeitsnische besetzt.

Doch die Kairoer sind erfinderisch und Meister der Improvisation. Ihre Suche nach Lebensraum kapituliert vor keinem Hindernis. Zehntausende Kairoer hausen auf den Flachdächern der ärmeren Viertel. In Zelten aus Plastikfetzen, Jutesäcken und Lumpen. In gebrechlichen Verschlägen aus Sperrholz, Blech und Teerpappe. Zusammen mit Ziegen und Schafen, Hühnern und Tauben. Die Landflüchtlinge haben das Dorf gleich mit in die Metropole gebracht.

Beinahe komfortabel leben im Vergleich zu den Dachmenschen die Bewohner des Kalifen- und Mameluckenfriedhofs al -Karaafa. Schon in den zwanziger Jahren besetzten obdachlose Arbeiter der Steinbrüche die Grabhäuser und Mausoleen der Nekropole. Heute gibt es in Teilen von al-Karaafa sogar Strom und fließendes Wasser, haben Bus und Straßenbahn Haltestellen. Die Totenstadt mit ihren Basaren, Handwerksbuden und Haschisch-Cafes ist zum Asyl der Lebenden geworden. Und auch die Stadtverwaltung duldet die Friedhofsbesetzer. Wozu den Schlaf der Fliegen stören? * * *

Auch die Buchhändler auf dem Midan Opera, dem Opernplatz, geben sich alle Mühe, den Schlaf der Fliegen nicht zu stören. Selbst der Geduldige findet kaum Werke zeitgenössischer ägyptischer SchriftstellerInnen. Im Zuge der Erstarkung eines fundamentalistisch verstandenen Islams werden nicht nur Romane von Nagib Machfuz als häretisch verteufelt. Sogar die Märchensammlung Tausendundeine Nacht fiel wegen angeblich pornographischer Inhalte zeitweise der Zensur anheim. Und so dominieren den Buchmarkt Koranausgaben, Korankommentare und Koranauslegungen.

Doch Zensur hin, Fundamentalismus her, ihre Wirkung schätzen viele ägyptische Intellektuelle ohnehin als sehr gering ein. In seinem Roman Das Hausboot am Nil zeichnet Nagib Machfuz ein düsteres Bild des Intellektuellen. Anis Zaki, die Hauptperson des Romans, der im arabischen Original weit treffender „Geschwätz am Nil“ heißt, lebt völlig zurückgezogen auf einem Hausboot. „Meine Augen sehen nach innen und nicht nach außen“, charakterisiert er sich selbst. Von der wirklichen Welt erfährt er nur durch das endlose Geschwätz seiner haschischberauschten Freunde, die sich Abend für Abend auf dem Boot versammeln. Zaki ist das Symbol des enttäuschten und fatalistischen, ja autistischen Intellektuellen, der in die Sucht und das Absolute flieht, verfolgt vom Gefühl der Leere.

Freilich, Kairo kann einen leicht in die Flucht schlagen. Denn schenkt man den Prognosen Glauben, dann werden im Jahr 2000 zwischen 16 und 20 Millionen Menschen in der Stadt leben. Fraglich ist dabei nur, wie lange angesichts dieser Aussicht der Kollaps noch hinausgezögert werden kann. Den politisch Verantwortlichen gelingt es allerdings nicht, verständliche Zeichen zur Abwehr des drohenden Zusammenbruchs zu setzen. Die Erzählung Der Stuhlträger von Yussuf Idris ist sowohl für diese Unmöglichkeit der Verständigung zwischen Volk und Verantwortlichen wie auch für die fatale Situation Kairos eine rabenschwarze Parabel. * * *

Mitten in Kairo trägt ein alter, gebrechlicher Mann einen ungeheuer prächtigen, tonnenschweren Stuhl. „Das Sonderbare, das Befremdliche, das Schreckenerregende aber ist, daß keiner, weder auf dem Opernplatz noch in der Straße der Republik noch vielleicht in ganz Kairo darüber staunt oder sich wundert.“ Ein Intellektueller hält den Träger an. Fragt nach dem Woher und Wohin. „Was soll ich tun, ich bin ein Lastenträger“, lautet die Antwort. Wut überkommt den Fragensteller: „Du setzt ihn einfach aus Überdruß ab, Bruder, aus Müdigkeit; wirf ihn weg, zertrümmere, verbrenne ihn!“ Ohne ein Zeichen seines pharaonischen Auftraggebers aber will der Stuhlträger das nicht tun. Er schickt sich an weiterzugehen. Da entdeckt der Intellektuelle ein Schild am Stuhl und liest: „Stuhlträger... Du hast genug getragen. Es ist nun Zeit, daß ein Stuhl dich trägt...“ Das ist „der Befehl Ptah Ras, Herr Stuhlträger“, ruft er aus, „im gleichen Augenblick erlassen, in dem er dir den Stuhl zu tragen befahl“. Doch der Stuhlträger zweifelt: „Ich kann nur dem Zeichen Glauben schenken... Hast du ein Zeichen?“ Darauf weiß der Intellektuelle keine Antwort. „Von euresgleichen werde ich nur aufgehalten“, knurrt der Alte, “...ihr Leute... die Last ist schwer. Und jeder Tag reicht knapp für eine Runde.“ Ratlos bleibt der Intellektuelle zurück. „Soll ich losstürmen, den Stuhl mit Gewalt von seinen Schultern reißen, oder soll ich mich beruhigen und ihn bemitleiden? Oder soll ich mir selbst Vorwürfe machen, weil ich das Zeichen nicht kenne? Kennt es denn jemand? Bei Gott, kennt es denn jemand?“