: Die Macht des Geldes
■ Carl Sternheims expressionistische Komödie „Die Kassette“ in der Bremer Inszenierung von Torsten Fischer ist ein Beispiel für den kleinbürgerlichen Kapitalismus um die Jahrhundertwende
Die Bühne ist leer. Zögernd wird eine Tür geöffnet. Die tastende Hand Fannys erscheint. Sie will einen letzten Versuch wagen, auf ihren Mann zuzugehen, die Macht der Liebe über die des Geldes siegen zu lassen. Doch ihr fehlt die Kraft. Stumm geht sie zurück. Die Tür fällt ins Schloß. Ende. Langanhaltender Applaus. Immer wieder werden die Akteure des Abends auf die Bühne gerufen. Carl Sternheims expressionistische Komödie „Die Kassette“ in der Inszenierung von Torsten Fischer wurde zum Erfolg für alle Beteiligten.
Zum Inhalt: Scheinbar deutsches Familienidyll. Der Oberlehrer Krull kehrt mit seiner zweiten Frau Fanny von der Hochzeitsreise zurück. Die brummige Erbtante Fräulein Treu, die naiv-schwärmerische Tochter Lydia und Dienstmagd Emma erwarten sie. So bieder und vertraut sich die Familie gibt, die Tante kennt die wahre Natur ihrer Verwandten und verfügt auch über das Mit
tel, sie hervorzulocken: Ihre Kassette mit Wertpapieren. Krull, der sich immer mehr als verlogender Spießer entpuppt, geht es nur um Besitznahme. Ob es seine Frau ist, die er stets „süße Puppe“ nennt, oder um die Kassette - vor die Wahl gestellt entscheidet er sich für letztere.
Auch Fotograf Seidenschnur, der zunächst die Liebeswünsche der Frauen im Hause Krull stillte, wird zuletzt ebenfalls zum Anbeter der Kassette: er läßt sowohl Lydias wie Fannys Bett für dieses Phantom im Stich.
Um Zeitbezug und Aktualität herzustellen bedarf es bei dieser Thematik keiner modernistischen Inszenierung. „Wir müssen uns strecken, anpassen: Das ist Weltordnung“, ist trotz Jahrhundertwende-Interieuer grauenvoll modern. Fischer zeichnet zusammen mit Bühnenbildner Herbert Schäfer Raum und Figuren überwiegend klar und eindeutig. Bei genauem Hinsehen sind feine, dezente Ideen zu erkennen. Die
Türen zum Bühnenraum, dem deutschen Wohnzimmer, sind je nach Stellung und Bedeutung der handelnden Personen unterschiedlich groß, von der kleinen Luke für die Dienstmagd bis hin zum raumhohen Doppelportal für die Erbtante. Nur das pastellfarbene Panorama des bayrischen Waldes an der großen Wand des Zimmers macht den Zusammenhang zwischen den Staatsanleihen des Königreichs Bayern (in der Kassette) und spießiger „Hirsch-am-Bergsee Romantik“ ein klein wenig überdeutlich. Hier wäre weniger mehr gewesen. Dieser klitzekleine Wermutstropfen fällt auch auf die Darstellung der Charaktere. Fischer hat es zum einen in überzeugender Weise geschafft, die SchauspielerInnen die expressionistische Kunstsprache Sternheims so sprechen zu lassen, daß mann meint, sie gehöre ihnen. Das Agieren der Darsteller ist notwendig überspitzt, schrill, heftig und laut. Nur hätte manch militärischer Hacken
schlag als Zeichen des Gehorsams ausgelassen werden können, und auch ohne bedrohlich Streicherklänge wäre der entscheidende Wendepunkt des Stückes, die Änderung des Testaments, erkennbar gewesen.
Auch im „wirklichen Leben“ sind Obrigkeits gläubikeit und Geldgier (leider) nicht so eindeutig erkennbar. Man muß da schon ein wenig genauer hinhören. Doch sollen diese kleinen Makel nicht über eine großartige Gesamtleistung der AkteurInnen hinwegtäuschen. Unbedingt anschauen!
Jörg Oberheide
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