: DER RAUSCH DER VERNUNFT
■ „Vom Übermut der Algebra“ in der Galerie Transfer
An die dunkelsten Stunden meines Schülerlebens fühlte ich mich erinnert, als ich die verwirrenden geometrischen Figuren und algebraischen Formeln sah, die Martin Kornelius Kimmich zu Sujets seiner Bilder und Objekte macht: Graphische Mosaike, zusammengesetzt aus regelmäßigen Vielecken, zweidimensionale Raumillusionen aus einer Folge gleichschenkeliger Dreiecke und deformierte Würfel, deren Seitenlängen gedehnt oder verkürzt erscheinen, tanzen da ein scheinbar chaotisches Spiel.
Beängstigend daran ist nicht allein die Erinnerung an ehemals falsch konstruierte Kurven, Tangenten oder nicht berechnete integrierte Flächen, sondern eher die spielerische Leichtigkeit und schier endlos variierbare Möglichkeit einer einzelnen Figur. Hätte ich geahnt, daß aus einem regelmäßigen Zehneck mit drei Parallelogrammen, zwei Fünfecken und einem Sechseck ein Fußball gezeichnet werden kann, daß in der starren geometrischen Figur des Dreiecks eine dynamische Schneckengestalt steckt, mir wäre vielleicht so manches mathematische Geheimnis nicht eben egal gewesen. So verwandeln die strengen Regeln die Winkel zu kurvigen Linien oder in ein neues Gespinst aus zahllosen miteinander verwobenen Strecken und Körpern. Und harmonische Proportionen gleichseitiger Würfel und spitzer Pyramiden verzerren sich zu bizarren Konstruktionen, wo nichts mehr ausgewogen und stimmig ist.
Daß Kimmich nicht nur übermütig an figürlichen Dissonanzen und wild gewordener Geometrie interessiert ist, sondern bei aller Willkür ein fast kosmisches Maß regelrechter Harmonie errechnet, zeigen seine ausführlichen Konstruktionsbeschreibungen, die er seinen Bildern beifügt. Die algebraischen Formeln aus der Hexenküche höherer Mathematik neutralisieren die beliebig anmutende Chaotik seiner Figuren und geben ihnen eindeutige Idealität. Die astronomischen Berechnungen aus Keplers Buch zur Bewegung der Himmelskörper, scheinbar assoziativ gesetzte X- und Y -Achsen, die sich selbständig machen und zu virtuellen Hypotenusen ohne eigentliche Schnittpunkte werden, sind in Wirklichkeit feste Größen, die jeden Strich genauestens definieren. Heraus kommt ein komplexes System, das akkuraten Regeln folgt. Gleich einer Uhr, deren verwirrendes Räderwerk jeden Sinn verstellt und doch exakt ist, versteckt sich in Kimmichs Bildern ein unsichtbarer Plan, der alles zusammenhält. Auf die Spitze eines Bleistifts gestellt und mit Hilfe eines Geodreiecks verwandelt sich so Algebra zu einer ästhetischen Figur, deren spielerische Proportionen einem unerbittlichen mathematischen Gesetz unterliegen.
Die rauschhafte Akribie, mit der Kimmich seine geometrischen Bilder und räumlichen Objekte berechnet, zeichnet und tischlert und im Spiel mit dem Regelwerk vollkommener Ordnung aufgeht, hat etwas Naiv-Platonisches. So gleicht die vermeintliche Suche nach der richtigen Proportion, ob mathematisch oder ästhetisch, einem künstlichen Bild vom Streben nach Endgültigkeit in Form und Inhalt, das selbst im Chaotischen noch ein göttliches Gesetz zu finden hofft. In Zeiten allgemeiner Auflösung flüchtet sich Kimmich, der auch Kenner antiker Brettspiele und Sänger altehrwürdiger Choräle ist, in eine Welt geometrisierter Ratio und den Glauben an die Darstellung absoluter Ordnung. So ist es nicht verwunderlich, daß die Quintessenz seiner Zeichnungen und Körper, ob als künstlerische Rettung oder spielerische Befreiung, das ideale Maß des „Goldenen Schnitts“ zum letztendlichen Ziel haben. Bei Kimmich steht das Leben im Verhältnis zur Kunst 1:0,618.
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„Vom Übermut der Algebra“ in der Galerie Transfer, Mo, Mi, Fr 15-18 und Do 15-20 Uhr. Der Katalog kostet 12 Mark. Zusätzlich hält Kimmich noch Spiele und geometrische Bastelarbeiten bereit.
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