: Das kritische Alter, mein Lieber!
■ Ein Gespräch mit der französischen Schauspielerin Delphine Seyrig über die Arbeit mit männlichen und weiblichen Regisseurinnen / In Ulrike Ottingers „Johanna d'Arc of Mongolia“, der heute startet, spielt sie Lady Windermere
Gerhard Midding
Gerhard Midding: Madame Seyrig, man hat Sie einmal als eine „proustische“ Schauspielerin bezeichnet, der es gelingt, in jede Geste eine ganze Kette von Imaginationen zu legen. Entdecken Sie sich und Ihre Konzeption der Geste im Kino in dieser Beschreibung wieder?
Delphine Seyrig: Dieser Satz ist interessant, denn so, wie ich ihn interpretiere, ähnelt er einer Definition, die mir während unserer Dreharbeiten in China ein Filmkritiker nahelegte: Er entdeckte hinter jedem Zeichen und jeder Geste eine große Kultur. Ich sehe eine Verbindung zwischen beiden Beschreibungen, aber mein Spiel ist weder „proustisch“ noch zeigt es eine „große Kultur“. Tatsächlich ist es die Erinnerung, die Erinnerung, die wiedergeboren wird, die meine Art zu spielen bestimmt. So habe ich die Methode des „actor's studio“ verstanden: Gesten sind nicht allein Gesten, sie sind die Erweiterung von etwas anderem, welches das Geheimnis des Schauspielers ist - aber auch seine Arbeit. Denn die Schauspielerei besitzt nichts Magisches, sie ist Arbeit. Ich glaube nicht an Magie, sondern an Arbeit!
Sie haben oft davon gesprochen, daß ein Schauspieler für jede seiner Rollen eine eigene Vergangenheit schaffen muß.
Das ist exakt die Methode des „actor's studio“ und meines Lehrers Lee Strasberg: Alle Phantasien und Vorstellungskraft, die in seine Rolle einfließt, kann nur aus Erfahrungen entstehen. Es gibt keine Imagination unabhängig von Erfahrungen.
Aber wie reagieren Sie auf ein Buch wie das zu „L'annee derniere a Marienbad“, das den Personen eine Vergangenheit verweigert?
Das denken Sie! Alle Personen haben eine Vergangenheit. Ich habe eine Vergangenheit für meine Figur geschaffen. Und ich bin sicher, daß Robbe-Grillet - bewußt oder unbewußt - auch eine Vergangenheit für sie geschaffen hat. Er mag sagen, daß seine Figuren generell keine besitzen, aber er selbst besitzt sie ja auch und all das, was einem seit der Geburt passiert, wird zu einem Teil der Arbeit. Auch Resnais besitzt eine Vergangenheit und hat sie in den Film einfließen lassen.
Bei „Marienbad“ ging es Resnais auch darum, die Faszination des Stummfilms einzufangen. Glauben Sie, daß die Tatsache, daß er Sie in der Hauptrolle besetzt hat, ein Teil dieser Strategie war?
Aber ich besitze doch überhaupt keine Ähnlichkeit mit Louise Brooks oder Greta Garbo oder irgendeiner anderen Stummfilmdarstellerin! Nein, wir haben daran gearbeitet, das war eine Entscheidung und entstand nicht aus einer Ähnlichkeit oder Affinität. Wir gingen in die cinematheque und schauten uns Stummfilme an, wir studierten sie und ließen uns von ihnen inspirieren. Wir machten Photoaufnahmen von bestimmten Gesten und bereiteten uns monatelang darauf vor, viel ausführlicher, als ich es bisher bei Filmen erlebt habe. Wir diskutierten das Buch stundenlang und arbeiteten daran wie an einem Theaterstück.
Ihr zweiter Film mit Resnais, „Muriel“, unterscheidet sich radikal von „Marienbad“.
Der große Unterschied zwischen beiden Filmen liegt im Stil und in der Form. Es ist immer noch Resnais, es geht immer noch um seine beiden großen Themen Vergangenheit und Erinnerung, aber er hat eine andere Form gewählt. Sie manifestiert sich allein schon darin, daß es in Muriel keine, fast keine Kamerabewegungen gibt. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Filmen liegen vielleicht in den Frauenfiguren und das mag der Grund gewesen sein, weshalb Resnais sich für beide Bücher interessierte.
Sie erwähnten eben, mit Resnais hätten Sie am Drehbuch wie an einem Theaterstück gearbeitet. Galt das auch für Ihre Filme mit Margeruite Duras?
In den Filmen, in denen wir zusammenarbeiteten, war das nicht der Fall. Vielleicht probt sie bei anderen Filmen, wenn sie die Möglichkeit dazu hat. India Songs mußten wir in zehn Tagen abdrehen, da hatten wir keine Zeit für Proben. Dreharbeiten mit weiblichen Regisseuren sind sehr schwer, denn meistens hat man nur sehr wenig Geld zur Verfügung und die Drehzeiten sind entsprechend kurz.
Hat Sie in den ersten Jahren Ihrer Karriere das „Marienbad“ -Image verfolgt? Hat man Ihnen - wie es auch Emmanuele Riva ergangen ist - nur Rollen angeboten, die der in Ihrem ersten großen Film ähnelten?
Ja, mich selber hat der Film nicht verfolgt, wohl aber andere Leute. Das ist vielleicht schmeichelhaft, aber auch ärgerlich und lästig, denn es zeigt, daß die Produzenten schrecklich wenig Phantasie besitzen: Sie haben in mir immer nur die mysteriöse Frau aus Marienbad gesehen, aber Gott sei Dank kann ich auch noch andere Dinge spielen.
Ein Dialogsatz, den Sie in „Baisers volees“ von Truffaut sprechen, wirkt wie ein bewußter Bruch mit diesem Image: „Ich bin keine Erscheinung, ich bin eine wirkliche Frau und das ist das genaue Gegenteil.“ War das von Truffaut als hommage gedacht?
Ich würde nicht wagen, zu definieren, was für Ideen Truffaut hatte. Daß seine Filme, also auch Baisers volees, voller Anspielungen sind, ist allgemein bekannt. Vielleicht machte es ihm Spaß, zu erzählen, daß der junge Antoine Doinel sich in eine mysteriöse Frau verliebt, die ich schon in früheren Filmen gespielt habe. Ich machte Truffaut klar, daß ich die Rolle nicht so ernst spielen wollte. Es sollte keine traurige, unzufriedene Ehefrau sein, die nur mit dem Jungen schläft, weil ihre Ehe unglücklich ist. Das interessierte mich nicht. Ich wollte zeigen, daß die Ehe mit Michel Lonsdale nicht unglücklich ist, sie aber trotzdem mit dem Jungen schläft: eine glückliche Frau, die eben nur mit einem etwas sonderbaren Ehemann verheiratet ist.
Zwei Regisseure, für die Sie erst kleine Rollen, dann aber tragende Rollen spielten, waren Bunuel und Losey.
Ich schrieb Bunuel, daß ich ziemlich alles für ihn spielen würde. Er antwortete, er habe in La voie lactee leider nur zwei kleine Rollen, die noch besetzt werden müßten: eine Prostituierte und eine Schullehrerin. Welche von beiden wollte ich denn spielen? Ich kannte das Drehbuch nicht und fragte ihn. „Nun, die Schullehrerin ist schon eine interessante Rolle, aber ... die Prostituierte ist viel interessanter!“ Das war meine erste Arbeit mit Bunuel und danach kam dann natürlich Le charme discret de la bourgeoisie. Joe Losey war ein anderer Fall. Er bat mich in seine Suite im „Georges V“ und begutachtete mich: „Ich möchte, daß Sie in meinem nächsten Film mitspielen, weil ich wissen will, ob Sie eine wirkliche Schauspielerin sind oder nur eine Schöpfung Resnais.“ Da war er ganz offen.
In Deutschland ist die Tatsache, daß Sie auch Videofilme gedreht haben, nur wenig bekannt. Ich glaube, einer von ihnen bestand aus Interviews mit Schauspielerinnen?
Ja, das ist nur einer von mehreren Videofilmen, die ich inszeniert habe. Der erste entstand schon 1973 oder '74, als es noch gar keine Cassetten gab. Es war ein zehnminütiger Schwarzweißfilm über Folterungen in Chile. Mit einigen Freunden zusammen drehte ich einen Film zum „Internationalen Jahr der Frau“, 1975. Einige Zeit später drehte ich schließlich noch einen Film, in dem ich Apuleius‘ Goldenen Esel vorlese, bei mir zu Haus, allein mit meiner Katze.
In den letzten zehn Jahren haben Sie fast ausnahmslos in Filmen weiblicher Regisseure gespielt...
Ist das nicht interessant? Was glauben Sie, weshalb das so ist?
Weil heutzutage mehr Frauen die Chance bekommen, Regie zu führen, als früher?
Warum? Ich habe sehr viel Zeit, ich könnte mit Frauen und mit Männern arbeiten.
Vielleicht eine bewußt feministische Entscheidung?
Warum sollte ich nicht mehr mit Männern arbeiten wollen? Glauben Sie, daß das eine Entscheidung war, die ich getroffen habe? Entschuldigen Sie, daß ich Sie jetzt interviewe, aber es ist mir ganz ernst. Nun, ich werde es Ihnen sagen: weil mich niemand mehr fragt. Ich habe das kritische Alter überschritten, mein Lieber. Noch einmal: ich arbeite nicht mehr mit männlichen Regisseuren, und es ist nicht mein Entschluß. Gott sei Dank, daß es Regisseurinnen gibt, denn ohne sie würde ich gar nicht mehr arbeiten können. Verfolgen Sie einmal die Karriere von Schauspielerinnen meiner Generation, wir brauchen keine Namen zu nennen, aber entwerfen Sie einmal für sich ein Panorama und schauen Sie, was sie heute machen... Regisseurinnen stört das Alter nicht, sie schreiben interessante Rollen für Frauen in meinem Alter. Männliche Regisseure hingegen bieten mir nur kleine Rollen an: sehr interessante Frauenfiguren, die aber nur am Rande stehen. Während im Mittelpunkt ein 18jähriges, sanftes, furchtbar uninteressantes Mädchen steht. Und das, obwohl es bemerkenswerte Rollen für 18jährige Mädchen geben könnte! Aber in Filmen sind sie immer nur Sexobjekte. Die interessante Frauenrolle hingegen bleibt im Hintergrund: sie hat Probleme mit dem Alter usw. Solche Angebote lehne ich ab, obwohl ich diese Rollen gern spielen würde, wenn sie mehr wären als ein dekorativer Hintergrund. Mir bleibt einfach keine Wahl.
Was bedeutet für Sie Arbeit mit weiblichen Regisseuren? Ein Mehr an Sicherheit oder Vertrauen?
Gewöhnlich geben mir Regisseurinnen soviel Sicherheit, wie mir gerade möglich ist, denn generell fühle ich mich vor der Kamera sehr unsicher. Wenn ich zu den Dreharbeiten komme, sind schon von vornherein eine Menge Dinge beiseitegeschoben worden: Ich muß mich nicht fragen, wie ich jemanden zufriedenstellen kann, der einem anderen Geschlecht angehört, der mir immer ein bißchen geheimnisvoll bleibt, von dem ich nie genau weiß, was er denkt. Bei einer Frau hingegen bin ich sicher, daß wir über alles sprechen können. Wenn ihr etwas nicht gefällt, sagt sie es mir, wenn mir etwas nicht gefällt, sage ich es ihr.
Einige der Filme, die Sie zusammen mit Regisseurinnen gedreht haben, sind von einem starken Ensemblespiel gesprägt. Ich denke besonders an die Filme von Ulrike Ottinger. Schlagen Sie damit auch einen Bogen zu Ihrer Bühnenarbeit?
Nicht zu der Art von Theater, die ich mache. Ich stehe meist mit einem einzigen Partner auf der Bühne. Seit Jahren habe ich fast nur noch in Zweipersonenstücken gespielt, was freilich auch eine Art Ensemblespiel ist. Das waren in den letzten Jahren unter anderem The Beast in the Jungle von Margeruite Duras nach Henry James, zusammen mit Sami Frey, und Letters Home, ein Stück über Sylvia Plath und ihre Mutter.
Berichten Sie ein wenig über Ihre Erfahrungen mit Ulrike Ottinger. „Johanna d'Arc“ ist Ihr dritter gemeinsamer Film?
Ja, ich habe drei Filme mit ihr gedreht, drei mit Margeruite Duras und drei mit Chantal Akermann. Bevor Ulrike und ich uns trafen, bewunderten wir gegenseitig unsere Arbeit, das war eine gute Voraussetzung. Ich sah einen ihrer Kurzfilme während eines Frauenfilmfestivals in Brüssel, vor etlichen Jahren schon. Ich sagte augenblicklich: „Diese Frau muß ich treffen!“ Man stellte mich ihr vor, und ich sagte ihr, daß ich gerne mit ihr einen Film drehen würde. Als sie ihr nächstes Buch beendet hatte, gab sie es mir zu lesen, und ich akzeptierte sofort.
Worin unterscheidet sich Ulrike Ottinger von anderen Regisseuren, Regisseurinnen?
Die Arbeit mit ihr ist etwas Besonderes, denn sie steht auch hinter der Kamera. Das ist sehr ungewöhnlich, ich habe nie zuvor mit einem Regisseur gearbeitet, der auch die Kamera bedient. Ich bin mir nicht sicher, ob das besser für uns Schauspieler ist... Ich glaube, uns ist es lieber, wenn der Regisseur nichts tut, uns nur zuschaut und zuhört. Wahrscheinlich würde ich mich wohler fühlen, wenn Ulrike nicht das Bild kadrieren müßte, sondern mir zuschauen könnte. Die Dreharbeiten mit Ulrike sind immer sehr schwierig, niemals bequem, denn sie bemüht sich um etwas sehr Kompliziertes: Es gelingt ihr, Natur und Künstlichkeit in einer Einstellung zu vereinen.
Die gilt auch für „Johanna d'Arc“. Wie wirkt der Film auf Sie, nun, da Sie ihn zum ersten Mal gesehen haben?
Der Film wirkt auf mich wie das Resultat der Phantasie und der Liebe zu einem Ort, an dem man nie zuvor gewesen ist. Die Reise - tagelang in einem Zug: wie in der Vergangenheit. All diese Dinge gibt es ja gar nicht mehr. Heutzutage nimmt man ein Flugzeug. Ich hatte als Kind noch das Glück, auf diese Weise zu reisen. Mir scheint, daß Ulrike sich als Kind für die Mongolei begeistert hat und das Land für sie zu einem Zauberland geworden ist. Man muß den Film in einer kindlichen Stimmung sehen. Für mich hat der Film die kindliche Qualität, die jeder große Künstler auch besitzt. Bunuel zum Beispiel hatte sie auch, das ist zwar selten verstanden worden, aber er besaß eine sehr jungenhafte Sensibilität.
Wenn man Johanna d'Arc in dieser kindlichen Stimmung sieht, ist es unmöglich, zu behaupten, daß man den Film nicht verstehen kann. Das wäre, als würde man sagen: „Ich verstehe 'Schneewittchen‘ nicht, oder ich verstehe 'Aschenbrödel‘ nicht. Dies ist ein Märchen von Ulrike, eine Erinnerung an ihre Phantasien als Kind, eine Erinnerung an etwas, das sie nie gesehen, sich aber sehr wohl vorgestellt hat. Dann fuhr sie dorthin und sah das wirkliche Land. Also ist die Vermischung ihrer Phanatasie und der Realität im Film allgegenwärtig.
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