: Schreckliche Wahrheitssuche
■ Rechtsanwalt Rolf Gössner informierte lückenlos über die Lückenlosigkeit des Überwachungsstaats / Reaktion: Wachsende Verstummung auf wachsende Information
In der Bundesrepublik scheinen Umstände zu herrschen, in denen es manchmal der glücklichere Zustand sein mag, nicht allzugenau Bescheid zu wissen. Die allzu intime Sachkenntnis der Realitätsaspekt-Experten droht sie am Ende in einen Zustand ungeheuer belesener Verzweiflung zu hinterlassen. Ihr hochspezialisiertes Wissen ist zwar wahr, aber unproduktiv. So genau wissen Sie Bescheid, daß sie schließlich vor den akribisch geordneten Realitätsdetails ihrer wissenschaftlichen Sammelwut ehrfürchtig in die Knie sinken und ihre Ohnmacht vor den liebevoll gebauten Wahrheitstürmen einbekennen müßten. Dann haben sie die Wahrheit, aber sie haben nichts davon, und die Mitteilung ihres Wissens führt bei den Informierten eher zum Verstummen als zu weiterer Neugier.
Ein solches Feld der Bundesrepublik ist ihr Paragraph 129a, einer seiner sachkundigsten Kenner ist der Bremer Rechtsanwalt und Journalist Rolf Gössner, und in weitgehender Stummheit endete gestern sein Vortrag in der Bremer Universität über die Geschichte dieses Strafrechtsparagraphen und die jüngsten Fälle seiner Anwendung. Mit seiner Hilfe versucht die Bundesanwalt
schaft derzeit in Düsseldorf nachzuweisen, daß der Erwerb eines handelsüblichen Weckers bundedeutsche Gerichte mit einiger Wahrscheinlichkeit zu der Annahme berechtigt, es bei den KäuferInnen mit Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung zu tun zu haben. In Düsseldorf steht seit zwei Monaten die Journalistin Ingrid Strobl vor Gericht. Rolf Gössner beobachtet diesen Prozeß als Rechtsanwalt und Journalist, und er beobachtet ihn so genau (so könnte eine Erklärung für die zaghaften Zuhörere-Reaktionen auf sein Sittengemälde bundedeutscher Terroristenhatz lauten), daß er weder Zeit noch Interesse aufbringen kann, um eine Bundesrepublik jenseits von Schleppnetzfahndung, Telefonüberwachung und Leibesvisitationen zu entdecken.
Gössners Beobachtungen sind dicht - im doppelten Sinne. Bruchlos zieht er ihren Bogen vom schwerbewachten Transport der Angeklagten Strobl vom Untersuchungsgefängnis durch die hubschrauberüberwachte Düsseldorfer Innenstadt auf die hermetisch abgeriegelte Anklagebank, den waghalsigen Beweisketten, mit denen die Lücken bei der Rekonstruktion des Tatbestands mit Gesinnungs-Versatz
stücken der Angeklagten zugestopft werden und aus allgemein zugänglichen Artikeln der Ingrid Strobl auf ihre konspirative Terroristen-Tätigkeit geschlossen wird. Kein Zweifel: Gössner ahnt das Urteil schon, das unter solchen Umständen gefällt werden wird: Aus einer juristisch bislang nicht auffällig gewordenen Wecker-Besitzerin wird mit Hilfe von § 129a, Herrn Rebmann, des Vorsitzenden Richters am Ende eine Terroristin gemacht sein, die als Mitglied der Roten Zellen einen Bomben-Anschlag auf ein Gebäude der Lufthansa verübt hat. Das Urteil wird nicht nur Ingrid Strobl ins Gefängnis bringen, sondern auch Fallstrick für weitere Angeklagte werden, für die heute noch die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils zu gelten hätte. Gössners insgeheim mitgeschleiftes Argument: Potentiell uns alle. Was Ingrid Strobl bislang noch unterstellt wird, kann - einmal in ein rechtskräftiges Urteil eingegangen - von da an durch die Geschichte politischer Strafverfahren mitgeschleift werden, ohne daß je wieder Beweis darüber erhoben werden müßte. Gössner ahnt Urteilsbegründungen mit Zitaten aus Urteilsbegründungen. die ihrerseits Urteilsbegründun
gen zitieren usf. Juristisch, weiß Gössner, ließe sich bereits heute ein ÖTV-Streik gegen ein kommunales Klärwerk mühelos unter den § 129a subsummieren. Daß es so Gott sei Dank noch nicht ist, ist bei Gössner kein Grund zur Hoffnung, sondern Grund, schlechte Zeiten vorauszusagen.
Entsprechend kurz fällt das Resumee des 129a-Experten nach einstündigem Referat aus: Der Paragraph muß abgeschafft, seine Opfer müssen rehabilitiert werden. Was Verteidiger bis dahin tun können, was die Verteidiger von Ingrid Strobl tatsächlich tun, scheint an das hermetische Bild der lückenlosen Überwachung jedes Widerstands ebensowenig zu passen wie Momper-Initiativen, Hungerstreik-Demonstrationen oder Weizsäcker-Begnadigungen. Gössners Bild ist beeindruckend. Rund 70 Jura-StudentInnen der Bremer Universität verließen nach eineinhalb Stunden den Hörsaal 1410, während des Uni-Streiks in „Ulrike-Meinhof-Saal“ umbenannt. Und Gössners Bild ist wahr, teilwahr. Vollständig durch Weglassungen. Die Anregung eines Zuhörers, eine Arbeitsgruppe zu politischem Strafrecht zu bilden, blieb angesichts dieser Wahrheit folgenlos.
K.S.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen