: VON FOTOGRAFIEN
■ Schlafzimmer Goethes, Heiliger Stuhl
Mit einem Staatsakt in Frankreich begann vor 150 Jahren die Geschichte der populären Fotografie.
Produzenten mechanischer Bilder haben viele Fotografen seit Erfindung des Berufs nicht sein wollen. Zwei Wege führten aus der Klemme: Entweder man wandte sich einem großen Sujet zu in der Hoffnung, unbesehen an seiner Erhabenheit teilzuhaben. Oder man bügelte die Technik und versuchte, als Fast-Maler durchzugehen.
Beide (aus heutiger Sicht Irr-) Wege wurden massenhaft beschritten um die Jahrhundertwende, als Kurt Hielscher erwachsen wurde. Er, zunächst Lehrer, überwinterte den Ersten Weltkrieg in Spanien und wurde dort zum Reisefotografen, später im Auftrag eines Berliner Verlags in halb Europa unterwegs. Sein Deutschland-Bildband von 1924 macht etliche Kompromisse an die Branche, was die Motive angeht (Dome, Stadttore, Brunnen), aber verliert sich doch nicht ganz ans Klischee des Genrebilds. Hielscher geht die malerischen Orte fotografisch an.
Seite 196: Weimar. Goethes Sterbezimmer. Im Hochformat hat sich die Kamera gerade oberhalb der Mittellinie postiert, in Höhe des abwesenden Herrn von Goethe, angenommen, er läge. Eine kompliziert abgesteppte Decke fällt bis auf den Boden mit der Massigkeit eines Sarkophags. Wegen der Helligkeitswerte ist man versucht, die Kopfstütze des Sessels dem Bett zuzuordnen. Zeichnet sie nicht die merkwürdige Eierform seines Greisenkopfes? Der weiche Schatten des schweren, umwundenen Bandes (über dem Bett) suggeriert, es würde sich noch bewegen. Setzte es eine Klingel in Gang oder half es dem Bettlägerigen, sich aufzurichten?
Die Höhe der Decke, von der das Band wohl herabhängt, ist nur schwer zu schätzen. Das Foto denkt überhaupt nicht die Weite des Zimmers. Im Gegenteil: Wenn auch aufgeräumt - klar plaziert - schieben sich die Möbelstücke ineinander wie eine komplizierte Kleinstadtarchitektur. Feierlich, mit Bedacht arrangiert, geben sie sich organisch. Sie nehmen sich zusammen. Sie fügen sich. Sie stellen etwas dar.
Das Schriftstellerambiente ist ein Genre der Fotografie, vielmehr als eins der Malerei. Spüren die Fotografen die Verwandtschaft im Ziel (und in der Abhängigkeit von) der Vervielfältigung? Wohl kaum. Es ist eher die Sehnsucht nach dem Erhabenen, vermischt mit der Nostalgie des Undeutlichen. Gerade der technische Aspekt des Schreibens wird unterschlagen. Mit - mal wieder - malerischer Attitüde stellen sie das nach, was sie für die Quelle erzählerischer Phantasie halten. Sie tagträumen den Schreibtisch, als sei er ein Liebesnest.
Ich denke, der Versuchung, den Schauplatz des Schriftstellerlebens malerisch ins Literarische zu phantasieren, ist Hielscher nicht erlegen. Dieses Bild erwartet nicht den Auftritt des Dichters, eines liebestrunkenen Werthers oder eines Wilhelm Meisters. Warum nicht? - Er ist da. Er liegt, er sitzt, er steht. Er ist Bett, Stuhl, Tisch. So wie die Maske über dem Bett den Geist ersetzt hat (der, uns versprochen, „wie eine Taube vom Himmel herabfährt“), hat sich sein, Goethes, Körper verwandelt in Heilige Möbel. Der Heilige Stuhl. Eine profane Variante von Transsubstantiation.
Tatsächlich sehen wir nicht mehr als einen Ausschnitt eines Schlafzimmers in Mitteldeutschland, das in ein Museum zu verwandeln und als solches zu bewahren wechselnde Regierungen seit 1832 genug Geld und Interesse aufgebracht haben. Aber was ist schon „tatsächlich“ an fotografischen Bildern. Wir sehen, was der Fotograf uns zeigen wollte, Goethes Sterbezimmer.
Was den Möbeln die Kraft einer Physiognomie verleiht, ist das seitlich einfallende Tageslicht. Es erzeugt auch die Schatten an Tisch und Lehnstuhl (in dem übrigens Goethe starb), die jene schwere Ballung im zweiten Bildviertel (von unten) entstehen lassen. Der Kontrast suggeriert, daß vom Boden her ein Licht erscheine. Die Erde, die uns trägt, wird Geist. In Weimar.
Vor gut 150 Jahren ging die Geniezeit dem Ende zu. Als Handwerker hatte der Dichter, Buchstabe für Buchstabe, den Geist der Natur abgerungen. Bevor das Paradigma Geist/Natur ernsthaft erkrankte, entzog sich Goethe mit einer Frühjahrserkältung. Niepce, Daguerre, Talbot: sie kamen zu spät.
Kurt Hielscher: „Weimar. Goethes Sterbezimmer“, aus „Deutschland, Baukunst und Landschaft“, Berlin 1924
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