: Das georgische Trauma
Soldaten unter Moskauer Oberbefehl sind für das Massaker im georgischen Tiflis verantwortlich, bei dem mindestens 16 Menschen getötet wurden / Gorbatschow will von alldem nichts gewußt haben ■ Aus Tiflis Susanne Rasch
Laut Berichten der sowjetischen Presse stehen die Zeichen in Georgien auf Normalisierung: Die Truppen sollten auch weiterhin aus der Hauptstadt Tiflis abgezogen werden, Sicherheit und Ordnung würden durch 4.000 Arbeiter, Angestellte und Studenten sowie durch die Miliz sichergestellt werden. Wie man sich bei eventuellen neuen Protestdemonstrationen verhalten wird, ist jedoch unklar, haben diese Wachdienste doch keinerlei Möglichkeiten, als Staatsmacht einzugereifen. Schließlich sind sie Georgier, die sich zum Teil auch in der Blutnacht gegen die Truppen aus Moskau wandten. Trotz der Ruhe ist die Lage weiterhin angespannt. Die folgende Chronik einer Augenzeugin soll noch einmal die Ereignisse der Nacht jenes 8. auf den 9. April ins Gedächtnis rufen.
Niemand hatte mit einer solchen Eskalation gerechnet. Noch im November letzten Jahres waren Demonstrationen und ein Hungerstreik gegen die Verfassungsreform, mit der das Austrittsrecht einzelner Republiken aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken abgeschafft wurde, friedlich verlaufen. Am 25. Februar, als Tausende von DemonstrantInnen gegen die sowjetische Annexion ihrer Republik im Jahre 1921 protestierten, hatte die Polizei den Marsch lediglich gestoppt und rund 200 Personen festgenommen.
Die Unruhen der letzten Wochen begannen mit dem 18. März in Lychny im Bezirk Gudautskij. Eine Versammlung mehrerer Tausend Abchasier forderte das Ende der Bevormundung durch die georgische Mehrheit und den Anschluß ihrer autonomen Region an die russische Sowjetrepublik. Das brachte auch Georgier auf die Straße.
Die Proteste hatten zunächst volksfestartigen Charakter. Als dann am 6. April die ersten Panzer in Tiflis über den zentralen Leninplatz rollten und hinter dem Regierungsgebäude Stellung bezogen, fühlte sich die Bevölkerung provoziert, protestierte aber weiter.
Am Abend des 8. April versammelten sich etwa 10.000 DemonstrantInnen auf der Hauptstraße vor dem Regierungsgebäude, dem Rustaveli Prospekt. Schon an den Tagen zuvor war dies der wichtigste Ort der Demonstrationen, immer wieder mußte er für den Verkehr gesperrt werden. 20 bis 30 erneut Hungerstreikende lagen auf den Stufen des Regierungspalastes, und die Menge schien in ihren Forderungen entschlossener als an den Vortagen. Die Reden von Vertretern verschiedener, auch nicht-zugelassener Organisationen waren moderat und vorsichtig, einige wollten deutlich vermitteln. Ilja II., das geistliche Oberhaupt Georgiens, sprach von Deeskalation und forderte die Menschen auf, nach Hause zu gehen, bevor ein Unglück geschehe. Zu diesem Zeitpunkt sah es nicht danach aus. Gegen Mitternacht verließ ich den Platz.
Nervengas
„Vom Leninplatz kamen die Panzer an.“ Ein Mann zeichnet mir einen Lageplan in den Sand. „Es war so gegen 4.00 Uhr morgens. Wir bildeten zu beiden Seiten eine Gasse und wollten sie durchlassen.“ Als ich am nächsten Tag zum Rustaveli Prospekt will, komme ich nicht durch. Überall reden Menschen durcheinander, weinen, oder starren stumm in die Leere. Der Prospekt ist mit Panzern abgesperrt. In den Straßen drumherum bilden sich Autokolonnen, fahren langsam hupend und schwarze Fahnen schwenkend durch die Stadt. Aus den Fenstern hängen schwarze Stoffe, Straßenbäume und Laternen werden mit ihnen geschmückt. Erst langsam kann ich mir ein Bild von den Ereignissen der grauenhaften Nacht machen. „Tränengas haben sie eingesetzt“, sagt wütend eine junge Frau. Ein Mediziner der Akademie der Wissenschaften geht in Anwesenheit seiner Kollegen noch weiter: Beim Treffen mit Vertretern aus dem Zentralkomitee der Partei am 10. April, gibt er das Ergebnis chemischer Untersuchungen bekannt. „Es war Nervengas.“
„Und dann...“, ein anderer Augenzeuge stockt, „sie hatten Schlagstöcke und Spaten, weißt du, solche spitzen Spaten. Wild und brutal haben sie damit zugeschlagen.“ Er redet sich in Rage. „Besonders die vom Hungerstreik Geschwächten konnten ja nicht so schnell weglaufen. Sie lagen meist auf Schlafsäcken. Als die Schlägertruppen kamen, versuchten georgische Polizisten, die Leute vor den Spatenschlägen zu schützen.“ Nach offiziellen Angaben wurden nur 26 Polizisten verletzt. Doch es wird sogar von toten Polizisten gesprochen. Es muß schlimme Auseinandersetzungen zwischen den Moskau-unterstehenden Truppen des Innenministeriums, den Soldaten auf der einen Seite und den ortsansässigen Polizisten gegeben haben. Noch in der Nacht wurde die Polizei von Tiflis umgehend entwaffnet.
Kein Schutz
Die Flüchtenden suchten Schutz in der Kvaschvesti-Kirche, im Schauspielhaus und in nahegelegenen Wohnungen. „Wir sind ins Theater gerannt und haben uns dort bis zum Morgen versteckt“, berichtet eine junge Frau, der die Angst noch im Gesicht steht. Soldaten und die Moskauer Sondertruppen jagten die flüchtenden DemonstrantInnen noch in den Wohnungen, zerschlugen vielerorts die Einrichtungen, hackten alles kurz und klein, was ihnen in den Weg kam. Nicht einmal vor der Kirche machten sie halt.
Die Soldaten waren Sondereinheiten der sowjetischen Luftlandetruppen aus Gorki. Diese Truppe ist für ihre Brutalität bekannt. „Waisen mit einer dreijährigen Schulbildung, die man speziell ausgebildet hat“, sagt ein Mann kopfschüttelnd. „Alkohol und Medikamente hat man ihnen gegeben. Und dann hat man ihnen gesagt, wir Demonstranten seien bewaffnet.“
Nach offiziellen Angaben wurden in dieser Nacht 16 Menschen sofort getötet, drei weitere erlagen im Krankenhaus ihren Verletzungen. Die meisten waren Frauen, darunter auch zwei 16jährige und eine 70jährige Frau, sowie eine Schwangere. Noch immer werden Menschen vermißt. Angehörige erhalten keine Auskünfte, die Polizei hilft nicht bei der Suche.
Ein Augenzeugenbericht von der blutigen Nacht mit Fotos darf nicht in der führenden Reformzeitschrift 'Ogonjok‘ erscheinen. Als sich die georgische Jugendzeitschrift 'Molodezi Grusiin‘ vorwagte und den Artikel abdruckte, wurden die zur Auslieferung fertigen Exemplare einfach eingestampft. Auch das heizte die Empörung weiter an. Außenminister Schewardnadse mußte immer wieder betonen, daß Gorbatschow vom Truppeneinsatz nichts wußte. Die Glaubwürdigkeit der Perestroika steht bei den Georgiern auf dem Spiel.
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