Die deutsche Angst vor der Aktengruft

An Hitlers hundertstem Geburtstag, nach 30 Jahren Abwehr, wünscht sich der Bundestag die schnelle Übernahme der NS-Akten aus dem Berliner Document-Center von den Amerikanern / Das Archivgesetz als letzte Verteidigungslinie der Alt-Nazis  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Nicht einmal der Umfang des Archivs ist exakt bestimmbar Schätzungen bewegen sich bei etwa 140 bis 150 Millionen Blatt Papier. Was auf den Seiten steht, ist erst recht unbekannt: das Berliner Document Center, alliierte Sammelstelle für die Akten der NS-Bürokratie entzieht sich den normalen Kategorien eines Archivs. Das soll sich endlich ändern, beschloß der Bundestag nun genau am hundertsten Geburtstag Adolf Hitlers. Wie und wann die Altlast der Öffentlichkeit zugänglich wird, ist weiterhin völlig offen.

Sämtliche nahezu elf Millionen Mitgliederakten der NSDAP und eine unübersehbare Menge von Dokumenten aus allen Bereichen des NS-Staats - von SS und SA bis hin zum NS -Lehrerbund und der Reichsärztekammer - lagern im ehemaligen Gestapo-Abhörbunker in Berlin-Zehlendorf. Von den Amerikanern am Kriegsende sichergestellt, sind sie seitdem nur einer extrem eingeschränkten Öffentlichkeit zugänglich. Nur Akten von bereits rechtskräftig verurteilten Nazis dürfen eingesehen werden.

Archivarische Grundregeln sind nie beachtet worden: es gab nie eine Bestandsaufnahme und eine sachliche Zuordnung. Ein Archivschlüssel mit Querverweisen fehlt, und die Akten sind weder geordnet noch gegen Verlust numeriert. Dies und der behinderte Zugang hat über die Jahre wilden Spekulationen Nahrung geboten; der Anfang letzten Jahres bekanntgewordene Diebstahl von Akten hat dieses Bild nur noch bestätigt. Ob hier Akten über Militaria-Händler wirklich nur an Nazi -Nostalgiker gingen, wie es im Prozeß dargestellt wurde, oder belastete Alt-Nazis sich ihre Unschuld erkauften, muß offen bleiben.

Die Bundesregierung solle Übergabeverhandlungen mit den USA „intensiv“ betreiben, darin war sich am Donnerstag abend der Bundestag einmal einig. In deutsche Hände soll das Aktenlager möglichst noch vor der Beendigung der Mikroverfilmung, wünschen sich die Abgeordneten. Damit ist ein Dollpunkt angesprochen: die Verfilmung von 40 bis 70 Millionen Blättern steht noch aus und wird vorausichtlich nicht vor 1995 beendet sein. Den USA ist nicht anzulasten, daß das Archiv immer noch nicht in deutschen Händen ist. Bereits 1957 boten sie Verhandlungen darüber an, ohne auf Begeisterung bei den Bundesregierungen zu stoßen. Der Historiker Götz Aly hat den Bundesregierungen auf einem Hearing des Innenausschusses des Bundestags vorgeworfen, sie fürchteten die NS-Vergangenheit der Nachkriegseliten. Auch die SPD blockte lange; wie es heißt, lagere auch Helmut Schmidts Akte im Gestapo-Bunker. Im Jahre 1980 wurde vereinbart, das Archiv nach Beendigung der Mikroverfilmung zu übergeben. Die Kosten sollte die Bundesrepublik tragen, die USA den Auftrag vergeben. Das ist auch heute noch Stand der Dinge. Die Auftragsbedingungen sind nämlich so gestaltet, daß sich keine Firma bereitgefunden hat. Dabei drängt die Zeit: In wenigen Jahren wird die Täter-Generation ausgestorben sein. Wohl auch, um nicht in den Ruch der Sabotage zu geraten, haben sich die Bundestagsfraktionen nach langen Beratungen auf die „Bitte“ einer vorzeitigen Übernahme geeinigt.

Dafür hat sich eine nächste Hürde aufgetürmt: Die Bundesregierung besteht auf die strikte Anwendung des Bundesarchivgesetzes. Die darin enthaltenen Regelungen zum Persönlichkeitsschutz werden nun zum letzten Schützengraben der Alt-Nazis. Nach dem Archivgesetz dürfen Akten erst 30 Jahre nach dem Tod der Betroffenen verwertet werden; steht das Todesjahr nicht fest, beginnt die Nutzung erst 110 Jahre nach der Geburt. Nicht nur die auf Demokraten umgeschulten Nazis, sondern auch all die untergetauchten NS-Mörder haben so ihre Ruh‘.

Eine Einschränkung des Archivgesetzes für Nazi-Täter wird von CDU/CSU und FDP abgelehnt. „Wir wollen kein „Sonderrecht für Nazis“, verteidigt dies der Abgeordnete Wolfgang Lüder (FDP): „Nicht mit der Denunziation der persönlichen Vergangenheit der einzelnen Nazis können wir die politische Auseinandersetzung mit dem NS-System führen, (...) sondern nur mit sachlichen Argumenten, die auch in Zukunft Bestand haben.“

Antje Vollmer von den Grünen hat sich im Bundestag gefragt, woraus der zähe Widerstand gegen die eingebunkerten Papiere erwächst: „Es ist der Versuch einer Befriedung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Es ist der Versuch, einen Neuanfang möglich zu machen, in dem nicht immer wieder Einbrüche aus der Vergangenheit diesen Neuanfang zerstören sollten.“ Mit dieser „Verweigerung“ sei der Gesellschaft die Chance genommen, sich das Archiv anzueignen, zu lernen, „großzügig mit den geringeren Irrtümern der Generation vor uns umgehen zu können, um uns auf die wirklich unfaßbaren konzentrieren zu können“.