: Zu einer freien Musik gehört alles
■ Der Free-Jazz-Posaunist und -Bassist Noris-Sirone Jones macht in Berlin Theater / Ein Porträt des Musikers
Walter Saller
Was für einen Klang ergeben zwei Hände?“, fragt Noris-Sirone Jones. Bevor Zeit zur Antwort bleibt, klatscht Sirone in die Hände. „Und was ist der Klang einer Hand? ... Stille ... Stille. Sie ist der größte Klang und der Nicht-Klang. Sie ist alles und nichts.“ Mit diesem einfachen Beispiel verdeutlicht Sirone sein Musikverständnis: Musik als die Einheit gegensätzlicher Ideen und ihrer Beziehungen zueinander. So wie ein Muskelpaar Bewegung durch Beugung des einen Muskels bei gleichzeitiger Streckung des anderen erzeugt, so entsteht für Sirone Klangbewegung, Musik durch Polarisation und Spannung.
Im Umfeld traditioneller New Orleans-Musik wächst Sirone in Atlanta (Georgia) auf. 1947, er ist gerade sieben Jahre alt, beginnt er Posaune zu lernen. Sein erster Lehrer ist Raymond Carver. Jener Carver, der die Flöte im Jazz salonfähig machte. Später studierte Sirone bei dem berühmten Dixieland -Musiker Ralph Mays Harmonie-, Melodie- und Rhythmuslehre. Alfred Wyatt schließlich vermittelt ihm Erfahrungen im Dirigieren und bei der Instrumentierung größerer Ensembles. Mit siebzehn schreibt Sirone für den Rhythm-and-blues-Sänger Jerry Butler seine erste Komposition: It's too late. Für Sirone freilich, der von 1957 bis 1964 mehrere Bands darunter das Group Ensemble mit dem Saxophonisten George Adams - leitet, ist es keineswegs zu spät, neue musikalische Wege einzuschlagen. Er beginnt neben Posaune auch Bass zu spielen und zieht 1965 nach New York. Ins Mekka avantgardistischer Jazzmusik.
Mitte der sechziger Jahre ist New York geprägt von einer politischen, sozialen und kulturellen Aufbruchstimmung. Es ist die Ära der Bürgerrechtsbewegung, die Hochzeit der „National Association for the Advancement of Colored People“ von Martin Luther King. Mit dem „Bürgerrechtsgesetz zur Gleichbehandlung der Farbigen“ von 1964 und dem „Gesetz zur Aufhebung von Verweigerungen des Wahlrechts an Farbige“ von 1965 kann die We-shall-overcome-Massenbewegung juristische Erfolge verbuchen. Am schwarzen Alltag der Schwarzen ändert sich indes so gut wie nichts. Überall in den USA kommt es zu neuen, schweren Rassenunruhen, die 1966 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen. Militante Gruppen wie „Black Power“, „Black Panther“ und „Black Muslims“ gewinnen an Einfluß. Black Revolution in der Musik
Auch die Musikerszene bleibt von dieser Entwicklung nicht unbeeinflußt. In New York schließt sich Sirone den Kreisen zorniger Musiker an, die ihre Musik radikalisieren. Sie verstehen Free Jazz als Kampf, die musikalischen Mittel als ästhetische Waffenkammer für eine „Black Revolution“. Der bedingungslose Bruch mit allen Werten traditioneller Jazzstile, die Emanzipation von Geräuschen und Lärm, modale Spielweisen mit endlos verschlungenen Skalen, die Zerhämmerung noch der letzten harmonischen Reste und ein völlig freier rhythmischer Puls, kurz: Destruktion, Verfremdung und Gebrochenheit werden zum ästhetisch gespiegelten Gesellschaftsprotest. Jedes Instrument, nicht nur die Bläser, entwickelt aggressiv-signalisierenden Charakter. Musik als ekstatische Inszenierung von Haß und Hoffnung. Die Avantgarde des Free Jazz‘ wahrt als Protest die Würde des Menschen. Freilich bedingungslos. Denn wenn es sein muß auch, indem sie ihn in ein Bad musikalischer Glassplitter stürzt.
In New York spielt Sirone mit vielen Größen der New-Jazz -Bewegung: Marion Brown, Pharoah Sanders, Albert Ayler, Dave Burrell, Noah Howard, Sun Ra, Ornette Coleman, Archie Shepp und Cecil Taylor sind darunter. Auch eine Reihe von Plattenaufnahmen entsteht. In ganz besonderer Erinnerung aber ist ihm sein Life-Auftritt mit John Coltrane im New Yorker East Village Theater. „Es war der fantastischste Telefonanruf in meinem Leben“, erzählt Sirone. „Marion Brown rief mich an und sagte, ich solle sofort kommen. Um mit Coltrane zu spielen! Es war für mich eine unglaubliche Erfahrung, mit diesem großen Musiker gemeinsam aufzutreten. Eine Erfahrung, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren hat.“ Klangexpeditionen
Besonders intensiv und dauerhaft ist Sirones Zusammenarbeit mit dem Pianisten Cecil Taylor, der mit seinen Schallbeschwörungen die Möglichkeiten des Pianos weit über das gängige Klang- und Farbspektrum hinaustreibt. „Zwölf Jahre habe ich mit Cecil Taylor gearbeitet“, sagt Sirone. Und wer je die kompromißlosen Klangexpeditionen Taylors in einem seiner Konzerte erlebt hat, der weiß, was „gearbeitet“ heißt, der versteht, was der Schriftsteller Cioran mit seinem Aphorismus: „Musik ist die Zuflucht der vom Glück angewiderten Seelen“ meint. Allein zwischen Anfang und Mitte der siebziger Jahre entstehen sieben gemeinsame Alben mit Taylor.
Während dieser Zeit gründet Sirone zusammen mit dem Geiger Leroy Jenkins und dem Drummer Jerome Cooper auch ein Trio: The Revolutionary Ensemble. „Die Persönlichkeit aller Musiker ging vollständig in die Musik ein“, beschreibt Sirone die Erfahrungen mit dem Revolutionary Ensemble. „Leroy spielte Violine und Altsaxophon, Jerome neben den Drums noch Piano, er ist auch ein ausgezeichneter Pianist, und ich spielte Bass und Posaune. Wir versuchten, neue musikalische Wege zu gehen und waren wirklich desperate to play music.“ Zu allem bereit. Und das ist auf den fünf Alben, die das Ensemble einspielt, auch zu hören: eine klirrend kalte und doch hektisch heiße Musik.
1975 ist Sirone im Quartett mit Ornette Coleman, Billy Higgins und James 'Blood‘ Ulmer auf Europatournee. Die Tournee ist überaus erfolgreich. Doch Sirone verläßt das Quartet wieder und geht eigene Wege. 1978 nimmt er mit Artistry Of The Cosmos das erste Album auf, das ausschließlich unter seiner künstlerischen und kompositorischen Regie steht. Er hat sich dazu eine Reihe erstklassiger Musiker ins Studio geholt: den jungen Wunderflötisten James Newton, den Perkussions-Derwisch Don Moye vom Art Ensemble of Chicago und den unorthodoxen Cellisten Muneer Fennell. Seit den späten siebziger Jahren spielt und tourt Sirone mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Bands und Musikern. Auch ein eigenes Label gründet er: Serious Music. Free Jazz heute
Wie ist es heute, im Jahr 1989, um den Free Jazz bestellt? „Free Jazz war ein Ausbruch aus erstarrten, geronnenen Formen und eine ästhetisch gebrochene Dokumentation der sechziger Jahre. Heute ist Free Jazz selbst zum formalen Stereotyp der Formlosigkeit geworden. Und ich hasse Stereotype. Ich möchte universale Musik machen. Nicht „Free Jazz“ ist daher der richtige Ausdruck für meine Musik, sondern „freie Musik„; freie Musik als eine Art musikalischer Lebensdarstellung und -interpretation, die insofern auch universal ist, als sie zwar nicht alles verwirklichen kann, aber immerhin alles für möglich hält. Kürzlich zum Beispiel haben George Adams und ich ein Album aufgenommen. Wir spielen darauf nur Spirituals. Ich bin freier Musiker. Zu einer freien Musik gehört eben alles.“
Auf Archie Shepps provokanten Satz, nicht irgendein Jazzmusiker, sondern Prince sei der neue Coltrane, reagiert Sirone heftig: „Archie ist verrückt, wenn er so etwas im Ernst behauptet. Der Archie von heute, das ist nicht der Archie, mit dem ich gespielt habe. Er hat den Kontakt zu seiner Musik verloren. Genau wie Pharoah Sanders. Sie sind große Musiker. Aber das, was sie im Augenblick machen, interessiert mich nicht.“ Berlin
Im Moment ist Sirone Gast des DAADs in Berlin. „Das hilft mir, ein Programm, das ich schon 1987 entwickelt habe, umzusetzen. Dieses Programm heißt The New York-Berlin -Connection und ist eine Art Zusammenführung von Musikern. Musiker aus Berlin, auch total unbekannte, habe ich nach New York vermittelt, wo sie mit Musikern aus den Vereinigten Staaten zusammenspielten. Im Gegenzug bringe ich Musiker aus New York nach Berlin. Auch Komponisten und Musiker will ich im Rahmen dieses Programms zusammenbringen. Dabei soll es vor allem um die Aufhebung von Gegensätzen gehen. Denn jemand, der jeden Ton notiert, kann meist nicht improvisieren. Und jemand, der ausschließlich improvisiert, hat oft von Musiktheorie keine Ahnung. Aber ich mache natürlich auch eigene Musik. Im Moment bin ich Co-Leader eines Quartetts. Wir nennen uns Feelings. Wir, das sind: James 'Blood‘ Ulmer, George Adams, Rashid Ali und ich. Ja, und schließlich haben meine Frau Veronika und ich ein Theaterstück mit Musik gemacht. Es heißt Street Life und handelt von der Lebenssituation obdachloser Menschen.“
„Street Life“, sagt die Schauspielerin Veronika Nowag -Jones, „haben Sirone und ich gemeinsam geschrieben, entwickelt und umgesetzt. Die Musik hat Sirone komponiert. Street Life ist ein Einakter mit Musik, der den Lebensalltag zweier Obdachloser darstellt.“ Es ist also ein Stück über das soziale Ozonloch in den USA. „Nicht nur in den Vereinigten Staaten, auch in Europa. Mag hier das Problem auch etwas geringer sein. Doch Street Life ist nicht nur Sozialkritik. Es ist auch ein Stück über die Kunst des Überlebens.“ Nach New York und Atlanta wird Street Life auch in Berlin aufgeführt werden. Die Zukunft des Jazz‘
Welche Entwicklung wird der Jazz in Zukunft nehmen? „Jazz“, antwortet Sirone, „ist immer revolutionäre Musik gewesen“.
Street Life wird am 5.und 6.Mai um 20 Uhr im Berliner Hebbel-Theater aufgeführt.
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