: Überfall im Morgengrauen
In dem palästinensischen Dorf Nahalin richtete eine Sondereinheit der israelischen Grenzpolizei ein Blutbad an / Fünf Palästinenser starben, mindestens 20 wurden verletzt, das Dorf wurde verwüstet / Die Bewohner kamen gerade vom Morgengebet, als Soldaten das Feuer eröffneten / Armeesprecher machen die Einwohner verantwortlich ■ Aus Nahalin Henryk M. Broder
Darüber, was in den frühen Morgenstunden des 13.April in dem palästinensischen Dorf Nahalin südwestlich von Bethlehem passiert ist, gibt es, wie in solchen Fällen üblich, widersprüchliche Darstellungen. Bei einer „operativen Aktion“ sei eine Kompanie Soldaten von steinewerfenden Jugendlichen angegriffen worden. Um sich aus einer lebensgefährlichen Situation zu befreien, hätten die Soldaten von ihren Waffen Gebrauch machen müssen, sagt die Armee. Die Soldaten hätten das Dorf regelrecht überfallen; ohne provoziert oder angegriffen worden zu sein, hätten sie wild und ziellos um sich geschossen, sagen die Leute von Nahalin. Fest steht: Vier Dörfler wurden erschossen, mindestens 20 verletzt, einige schwer, einer der Verletzten ist inzwischen gestorben.
Unmittelbar nach dem, was die Israelis einen „Vorfall“ und die Palästinenser ein „Massaker“ nennen, wurde Nahalin von der Umwelt weiträumig abgeriegelt, zu einem „geschlossenen Militärgebiet“ erklärt. Kein Zivilist durfte rein, keiner heraus. Gegen Abend trat im Dorf ein „Curfew“ in Kraft: Die Einwohner mußten zwei Tage lang in ihren Häusern bleiben. Derweil wurde der „Vorfall“ von einer Armeekommission untersucht.
Zoten über Militärlautsprecher
Dem palästinensischen Journalisten Abdel K. gelang es, ein paar Stunden nach dem Blutbad, den Ort des Geschehens zu besuchen. Er sagt: „Ich ließ mein Auto unterwegs stehen und schlich mich auf Feldwegen ein. Der ganze Ort kam mir wie ein großer Friedhof vor, alles war ruhig, die Menschen, die ich traf, standen unter Schock, niemand wußte genau, wieviele getötet und verletzt worden waren, wer in ein Hospital gekommen war und wer ins Gefängnis...“ - Die Konfrontation in den Morgenstunden des 13.April, sagte Abdel K., hatte eine Vorgeschichte. In der Woche zuvor war mehrmals ein Jeep der Armee beziehungsweise der Grenzpolizei vorgefahren, dessen Besetzung Zoten und sexuelle Unflätigkeiten auf Arabisch aus dem Lautsprecher dröhnte, mal tagsüber, mal auch um Mitternacht. „Die Leute von Nahalin sind als besonders religiös bekannt, aber auch für weniger fromme Moslems sind Anzüglichkeiten über ihre Frauen und Mütter eine ungeheuere Provokation.“
Als dann in den frühen Stunden des 13.April eine Einheit der Grenzpolizei ins Dorf kam, war das Morgengebet in der Moschee gerade beendet, die Menschen machten sich auf den Weg nach Hause beziehungsweise zur Arbeit. „Die Leute schrien die Soldaten an, ein paar Jugendliche warfen Steine. Bald darauf wurde geschossen, Verwundete riefen um Hilfe, das ganze Dorf war in Aufruhr.“ Der Vorfall, sagt Abdel K., dauerte ungefähr eine Stunde, von fünf bis sechs Uhr, erst gegen acht ließ die Armee Ambulanzen ins Dorf, um die Verletzten abzutransportieren. Von den mehr als 20 Verwundeten sollen mindestens vier im äußerst kritischen Zustand sein, am Rande vom Leben zum Tod. „Am 13.April kam die Intifada nach Nahalin. Bis zu diesem Tag hat niemand gewußt, wo das Dorf liegt.“
Grenzschützer mit Anti-Terror-Ausbildung
Wie es der Zufall will, hat der Kommandeur der Grenzpolizei, Meshulam Awit, am 12.April, also genau einen Tag vor dem Blutbad, der Zeitung 'Al Hamishmar‘ ein Interview gegeben, in dem er die Vorzüge seiner Truppe gegenüber der regulären Armee rühmte. Bei der Grenzwacht handele es sich um eine „stehende Truppe von Berufssoldaten“, die mit der „Mentalität und den Sitten“ der Einwohner der besetzten Gebiete vertraut wären, arabisch sprächen und genau wußten, wie sie sich in schwierigen Situationen zu verhalten hätten. Auf keinen Fall könne man sie als „schießwütig“ bezeichnen, allerdings wenn es hart auf hart käme, würden sie sich „nicht wie freundliche Apotheker“ verhalten.
Die so charakterisierte Grenzschutztruppe wird seit einiger Zeit verstärkt in den besetzten Gebieten eingesetzt. Es handelt sich um eine paramilitärische Polizeieinheit, vergleichbar etwa dem Bundesgrenzschutz in der Bundesrepublik, der unter anderem die Bewachung der Flughäfen obliegt. Die Grenzschützer haben eine besondere Anti-Terror-Ausbildung bekommen und sollen sich, sagt man, zum Einsatz bei zivilen Unruhen besser eignen als Soldaten, die für einen regulären Krieg trainiert werden. Die israelische Grenztruppe besteht zum großen Teil aus Drusen, Angehörigen einer islamischen Sekte, die als einzige Moslems in der israelischen Armee dienen. Die drusischen Soldaten sind nicht nur für ihren Mut, sondern auch für ihre Schlagfertigkeit bekannt. Der Dienst in der Armee ist für viele Drusen die einzige Chance, eine gewisse Karriere zu machen, in den Genuß jener Vergünstigungen zu kommen, die in Israel an den Militärdienst gebunden sind, zum Beispiel Extrakindergeld, verbilligte Kredite zum Hausbau etc. Zugleich bedeutet es für sie die Möglichkeit, sich von ihren Vettern abzusetzen - die Drusen gehören mit zum System, die übrigen Moslems nicht. Da sie hebräisch und arabisch sprechen, sind sie für den Einsatz in den besetzten Gebieten bestens geeignet.
Am Donnerstag morgen der vorletzten Wochen taten die Grenzschützer des Guten offenbar zu viel. Ein Einwohner von Nahalin, der hebräisch versteht, hat eine Auseinandersetzung zwischen den Grenzschützern und regulären Soldaten, die nachgekommen waren, aus unmittelbarer Nähe mitbekommen. Ein Soldat soll gesagt haben: „Es reicht, laßt uns von hier verschwinden“, worauf ein Grenzschützer geantwortet haben soll: „Das geht euch nichts an, das hier ist unser Job, und wir bleiben hier.“ Im Anschluß an diesen Wortwechsel soll es zu einer Schlägerei gekommen sein. Einen Tag darauf gab der Kommandeur der Grenzgruppe, Mashulam Amit, gegenüber der Nachrichtenagentur 'Reuter‘ zu, in Nahalin sei es zu „Unkorrektheiten“ gekommen und sie würden untersucht werden. Gegenüber dem israelischen Radio versicherte er, „Aktionen im Rahmen einer Schlacht wie der Intifada“ könnten nicht mit Samthandschuhen vorgenommen werden.
„Nahalin - ein wildes, gewalttätiges Dorf“
Der Kommandant des mittleren Bezirks, General Mitzna, sprach von einem „ernsten Vorfall“, sowohl was den Verlauf als auch die Zahl der Opfer angeht, macht aber die Einwohner von Nahalin für das Ergebnis verantwortlich: „Wer sich mit Gewalt unseren Truppen bei der Durchführung ihres Auftrags in den Weg stellt, der muß für die Folgen aufkommen.“ Nahalin, so General Mitzna, habe einen Ruf als „ein wildes und gewalttätiges Dorf“, von dem aus „Kommandotrupps“ Vorstöße zur Hauptstraße von Bethlehem nach Hebron unternehmen würden, um Steine und Molotowcocktails auf zivile Fahrzeuge zu werfen.
Der Einsatz der Grenzpolizei und der Armee fand im Rahmen „operationaler Aktivitäten“ statt und war gegen diejenigen Einwohner gerichtet, die solche Gewaltakte beginnen. Es sollten Jugendliche festgenommen, Waffen gesucht und „bestimmte Erkenntnisse“ gesammelt werden. Und der Chef des Stabes, General Shomron, sagte in einem Radiointerview, die Toten von Nahalin seien das Ergebnis der Gewaltakte gegen die Grenztruppe gewesen. Zugleich wies er darauf hin, unter den Getöteten seien keine Kinder gewesen, dafür aber Personen, „die der Armee für ihre Teilnahme an vielen gewalttätigen Ausschreitungen bekannt“ waren.
Die Verantwortlichen bedauerten also, was passiert war, machten aber die Leute aus Nahalin dafür verantwortlich. Und Verteidigungsminister Rabin schließlich erklärte, die Entscheidung, in Nahalin zu intervenieren, sei getroffen worden, um den falschen Eindruck zu widerlegen, die Einwohner könnten tun und lassen, was sie für richtig hielten. Damit kam Rabin dem eigentlichen Ziel der „operativen Aktion“ am nächsten: Es ging darum, die Präsenz der Armee auch an abgelegen Orten zu demonstrieren, aus Gründen, die mehr mit Staatsräson als mit Sicherheit zu tun haben.
Nahalin war vier Tage von der Außenwelt abgeriegelt, von Donnerstag bis Montag. Gleich nach der Aufhebung des Belagerungszustandes fuhr ich mit einem palästinensischen Kollegen hin, um mir die Folgen der Staatsaktion anzuschauen. Etwa zwei Kilometer vor Nahalin war die Fahrt zu Ende. Eine massive Barrikade versperrte die Straße. Es waren nicht Steine von der handlichen Größe, wie sie von den Palästinensern für Straßenblockaden benutzt werden, sondern riesige Felsbrocken, die man nur mit schweren Maschinen bewegen kann. Zu Fuß erreichten wir das Dorf.
Siad, 30 Jahre alt, schritt mit uns den Weg ab, den die Soldaten fünf Tage zuvor genommen hatten. Die Spuren waren noch deutlich zu sehen. In Siads Haus, das er mit seiner Frau, der Familie seines Bruders, zwei ledigen Brüdern und der Mutter - zusammen 14 Personen - bewohnt, hatten die Kugeln die Fenster der Eingangstür im ersten Stock durchschlagen und Löcher in die gegenüberliegende Wand gebohrt. Zur Zeit des Vorfalls sei er im Haus gewesen, seine Frau habe schnell reagiert und die Kinder unter Möbeln versteckt. Am Haus nebenan sieht man Einschußlöcher in den Wassertanks auf dem Dach, ein paar Meter weiter stehen zwei Autos mit eingeschlagenen Scheiben.
Kinder unter der
Treppe versteckt
Das „Zentrum“ von Nahalin ist der Platz vor der Moschee. Von ihrer Kuppel flattert eine palästinensische Fahne. Die Moschee steht auf einem kleinen Hügel, vor ihr ist ein Flachbau, in dem ein paar Läden und Werkstätten untergebracht sind. Vor dem Dach dieses Flachbaus hat man einen guten Blick auf die Straße. Siad bestreitet, daß Steine geworfen wurden, aber der Augenschein spricht dagegen. Man kann die Wurfgeschosse überall sehen. Hier fand die Konfrontation zwischen den Einwohnern und den Soldaten statt, hier hat es auch die vier Toten gegeben. Auf dem Dach des Hauses gegenüber, sagt Siad, hätten Scharfschützen gestanden. Wir gehen den Weg, den die Soldaten genommen haben, noch einmal in der umgekehrten Richtung.
Fathma, ungefähr 30 Jahre alt, Mutter von sechs Kindern, zeigt die durchschossenen Fenster ihres Hauses; im Kinderzimmer sind die Kugeln knapp oberhalb des Fernsehgeräts in der Wand eingeschlagen. Sie hat ihre Kinder unter der Betontreppe, die auf das Dach führt, versteckt. Im Haus des Lehrers Jamil wurden die Scheiben mit Gewehrkolben eingeschlagen. Vor dem Haus seines Vaters, sagt Jamil, haben die Soldaten im Vorbeigehen einen Hund und einen Esel erschossen. Alles in Selbstverteidigung, versteht sich.
Einen Tag später, letzten Mittwoch, war ich im Büro des Army-Spokesman, um Auskunft über ein paar Unklarheiten zu bekommen. Wenn die Soldaten aus einer lebensgefährlichen Situation heraus gehandelt hätten, müßte es auch unter ihnen Verletzte gegeben haben. Ob darüber etwas bekannt sei? Der Militärsprecher, ein sympathischer junger Mann, blätterte einen Aktenordner durch. Soweit ihm bekannt, meinte er, habe es unter den Soldaten keine Verletzten gegeben. Wenn Nahalin als ein wildes und gewalttätiges Dorf bekannt sei, müßte es auch in der Vergangenheit Zusammenstöße zwischen den Einwohnern und der Armee gegeben haben. Der Militärsprecher blätterte einen anderen Aktenordner durch und meinte, soweit ihm bekannt, habe es in der Vergangenheit keine Zusammenstöße zwischen Einwohnern und Armee gegeben. Wenn Leute aus Nahalin an der vier Kilometer entfernten Straße Bethlehem nach Hebron Steine und Molotowcocktails geworfen hätten, müßten einige von ihnen festgenommen worden sein. Auch darüber hatte der Militärsprecher keine Aufzeichnungen. Woher die Armee dann wisse, daß die Steinewerfer aus Nahalin stammten? - Es gäbe Möglichkeiten, dies auch ohne Festnahmen festzustellen.
Schließlich wollte ich noch wissen, wer die Barrikade am Eingang von Nahalin errichtet hätte. Er wisse nichts von einer solchen Barrikade, sagte der Armeesprecher, aber es seien vermutlich die Einwohner selbst gewesen. - Dies sei unmöglich, sagte ich, es gäbe im Dorf nicht die dazu nötigen schweren Maschinen. - Das müsse nichts bedeuten, sagte der Armeesprecher, die Pyramiden seien seinerzeit auch ohne schwere Geräte gebaut worden. Dann fragte er aber doch telefonisch beim Kommandeur in Bethlehem an; es sei in der Tat die Armee gewesen. Ob meine Vermutung richtig sei, wollte ich wissen: Man habe vor allem TV-Teams am Betreten des Ortes hindern und die Einwohner zusätzlich bestrafen wollen? - „Das ist Ihre Interpretation“, sagte der Armeesprecher und lächelte freundlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen