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„Verurteilen Sie die üblichen Schuldigen!“

■ Urteilsverkündung im Heysel-Prozeß

Möge Ihr Urteil so ausfallen, daß der 29.Mai 1985 von niemandem mehr aus dem Gedächtnis gestrichen werden kann“, wünschte sich Staatsanwalt Pierre Erauw, nachdem er im Brüsseler Heysel-Prozeß für 15 Liverpooler Fußballanhänger Strafen von drei bis vier Jahren Haft beantragt hatte. Daß ein Staatsanwalt glaubt, schreckliche Ereignisse würden durch Gerichtsurteile im Gedächtnis der Menschheit verankert, gehört sozusagen zu seinem Geschäft. Die Realität aber sieht anders aus.

Die meisten der direkt oder indirekt an den schrecklichen Ereignissen beim Europacupfinale 1985 Beteiligten wünschen sich genau das, was der gestrenge Herr Erauw so gern verhindern möchte: Die Urteile sollen endlich einen Schlußstrich ziehen unter die traumatische Nacht von Brüssel. Wäre da nicht die peinliche Sache mit Sheffield, stünde einem nahtlosen Übergang zur Tagesordnung nichts mehr im Wege. Zu dumm, daß ausgerechnet so kurz vor dem Heysel -Urteil das mühsam aus Sicherheitseuphorie und Gesundbeterei errichtete Kartenhaus zusammenkrachen mußte wie ein morscher Torpfosten.

Ein Deja-vu des Entsetzens: zerquetschte Körper, verzweifelte Menschen, betrunkene Jugendliche im Rausch der Gewalt, dilettantische Organisatoren, idiotische Polizisten, unschuldheischende Funktionäre. Der endgültige Bankrott all jener, die sich nicht für soziale Verhältnisse, sondern nur für Gewaltverhältnisse interessieren; die für die Betreuungs - und Freizeitkonzepte der Fanprojekte nur Häme übrig haben und lieber die Stadien in große Knäste verwandeln; die Thatchers und Neubergers, für die Sicherheit am Anfang des Gummiknüppels beginnt und am Ende des Gummiknüppels aufhört.

Mit Verlaub, Herr Staatsanwalt! Nicht die Urteile von Brüssel werden die Heysel-Tragödie im Gedächtnis der Menschen verankern, sondern die zu erwartenden zukünftigen Katastrophen. Und wenn es dann wieder heißt: „Verurteilen Sie die üblichen Schuldigen“, werden Ihre Kollegen aufgrund perfektionierter Videoüberwachung vielleicht sogar in der glücklichen Lage sein, Strafanträge gegen dreißig statt gegen fünfzehn Angeklagte zu stellen. Da sage noch jemand, es bewege sich nichts.

Matti Lieske

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