: Steine in die „Senatskosmetik“
■ Der 1.Mai in Kreuzberg blieb nicht lange friedlich / Heftige Auseinandersetzungen Maskierter mit der Polizei / Läden zertrümmert und geplündert / Polizei hilet sich auffallend zurück / Vermittlungsversuche der Veranstalter des Lause-Platz-Festes erfolglos
Um halb sieben war der Lausitzer Platz geräumt. Etwa 200 teilweise vermummte Leute hatten etwa eine Stunde lang mit Flaschen und Steinen auf die Polizeibeamten und Fahrzeuge geworfen. Die Polizei hatte mit Tränengas geantwortet. Dann fuhren die Wasserwerfer auf, der Platz wurde geräumt. In der Waldemarstraße brannte ein umgekipptes Auto. Tränengasschwaden zogen durch die Straßen. Der Ort des „Geschehens“ verlagerte sich auf die Skalitzer Straße und Görlitzer Straße. Auch dort brannten Autos aus. Eine Tankstelle wurde ausgeplündert, Taxis angezündet. Steine und Mollies flogen auf die vorbeifahrende U-Bahn, deren Betrieb wegen Gefährdung der Fahrgäste am frühen Abend eingestellt wurde.
Bei schönstem Sommerwetter hatte am Mittag die „Revolutionäre 1.Mai„-Demo begonnen. Alle linksradikalen Gruppen der Stadt, türkische Gruppen, einer großer Frauenblock, sicher an die 10.000 Menschen demonstrierten für die „Zusammenlegung der Hungerstreikenden“ und gegen „Reformismus“. Vom Oranienplatz durch Kreuzberg, weiter nach Neukölln bis zum Hermannplatz zog die Demonstration. Die Polizei hielt sich deutlich zurück. Selbst als Scheiben von Sexshops in die Brüche gingen, griff sie nicht ein. Auch ein „Penny-Markt“ in der Reuterstraße wurde, ohne daß die Polizei auftauchte, geplündert. Pflastersteine verschwanden in den Taschen türkischer Jugendlicher, von denen sich auffallend viele an den Auseinandersetzungen beteiligten. Weiter in Neukölln flog ein Brandsatz gegen das Kaufhaus Woolworth. Fünf Minuten lang war Selbstbedienung angesagt, den Rest besorgte die Sprinkler-Anlage. Die Polizei sicherte das Gebäude erst, als die Demonstration schon vorbeigezogen war. Erst später ging dann neben dem Schwarzen Block ein lockeres Spalier Polizeibeamter. Doch keiner kümmerte sich um die etwa 50 mit Haßkappen Vermummten. Ein Stein flog auch in die Scheiben eines türkischen Restaurants in der Karl -Marx-Straße, einer in ein Immobilienbüro. „Häuser besetzen sowieso“ hieß die Parole. Der Tenor auf der Kundgebung am Hermannplatz war deutlich. Von dem rot-grünen Senat habe man nichts zu erwarten. Er sei „Kosmetik“, vor allem was die Frauen angehe, weil er die grundsätzlichen patriarchalen Strukturen nicht verändere. „Es gibt keine Alternative zur Revolution“, hatte der Redner begonnen und davor gewarnt, Hoffnungen auf die Alternative Liste zu setzen.
Der Nachmittag nahm seinen offenbar beabsichtigten Verlauf. Vor der Kneipe Ecke Waldemarstraße am Lausitzer Platz rüsteten junge Leute mit Latten und Flaschen. Der Anlaß konnte nicht eindeutig geklärt werden. Jedenfalls flogen gegen 17Uhr Steine und Flaschen auf vier oder fünf Wannen, die Ecke Waldemar- und Manteuffelstraße auffuhren. Die Auseinandersetzung dauerte wohl schon länger an. Auf dem Lausitzer Platz war noch alles ruhig. Dann Tränengas von der Polizei. Alles rannte zurück auf den Platz. Fortsetzung auf Seite 18
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Binnen einer Viertelstunde war vom Fest nichts mehr zu spüren. Fluchtartig verließen die Leute ihre Stände. Das Material wurde später für Barrikaden verwendet. Etwa 150 bis 200 Festentschlossene lieferten sich dann eine ungleiche Schlacht mit der Polizei. Steine und Flaschen gegen Tränengas. Kein Schlagstock, keine Prügelei. Doch der Versuch, durch Zurückhaltung die Eskalation zu vermeiden, schlug zumindest kurzfristig fehl. „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei!“ hieß es mehrfach. „Bitte beenden Sie das Werfen mit Steinen auf die Polizeibeamten.“ Dann weiter die Bitte, man möge doch das Fest friedlich weiterführen. Aber dafür war's dann schon zu spät. Der Wille zum Zoff mit den Bullen war eindeutig. Vermittlungs- und Beruhigungsversuche der Veranstalter blieben erfolglos. In den Tränengasschwaden gingen Werner Hirschmüller und Ex -Baustdtrat Orlowsky erfolglos unter. Michael Eggert, Rollstuhlfahrer und ehemaliger Abgeordneter der AL, konnte auch nichts ausrichten. Und daß einige hundert gerne noch gefeiert hätten, interessierte die Steinewerfer offenbar auch wenig. Und wenn der Satz „Eskalation durch Provokation der Polizei“ einst gestimmt hat, so hat der gestrige Abend bewiesen, daß die Umkehrung nicht zutrifft.
In der Nacht zuvor hatte es bereits am Heinrichplatz Auseinandersetzungen gegeben. Nachdem um halb 10 das Haus Oranienstraße 192 besetzt worden war, plünderten Leute
den „Penny-Markt“ in der Naunynstraße und „Getränke Hoffmann“ in der Manteuffelstraße. Steine flogen auf die Polizeiautos. Gegen ein Uhr war es wieder ruhiger. Ein Wasserwerfer fuhr lustlos auf und ab und sprühte rechts und links in die Naunynstraße. Bilanz der Nacht: 16 Festnahmen, drei blieben nach Angaben der Polizei in Haft. Die anderen wurden wieder freigelassen. Das Haus Oranienstraße 192 blieb besetzt.
bf
Bei Redaktionsschluß dauerten die Auseinandersetzungen noch an. Angaben über Festnahmen usw. konnten von der Polizeinoch nicht gemacht werden. Ausführliche Berichte in der morgigen taz.
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