Türkische Polizei rechtfertigt blutigen Einsatz

Presse und Opposition geben der Empörung der Bevölkerung über blutigen Polizeieinsatz am 1.Mai Ausdruck / Gewerkschaftsfunktionäre rechtfertigen ihre Abwesenheit bei den Kundgebungen / Sie seien bedroht worden / Regierungschef Özal nimmt selbst nicht Stellung  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

„Dies ist der Mörder des 18jährigen Mehmet“ verkünden Riesenlettern über einem großformatigen Farbfoto. Es zeigt, wie ein Polizist mit seiner Pistole auf Demonstranten zielt. „Warum und gegen wen wird hier die Wut ausgelassen?“, fragt die Zeitung 'Sabah‘, eine der größten Tageszeitungen der Türkei. „Die Polizei schoß mit Kugeln auf Demonstranten. Brecht diese Hände, die abgedrückt haben“, ist die Schlagzeile von 'Hürriyet‘. Darunter das Bild von einem schießenden Zivilpolizisten.

Einen Tag nach den blutigen Unruhen am 1.Mai wird Bilanz gezogen. Der 18jährige Tischlerlehrling Mehmet Dalei ist tot. Die türkischen Tageszeitungen veröffentlichen lange Namenslisten von Schußverletzten, die in Krankenhäusern operiert werden mußten. Mindestens vier befinden sich in lebensgefährlichem Zustand. Details des brutalen Polizei und Militäreinsatzes vom Vortag werden bekannt. „Laßt diesen Kommmunisten verrecken“, waren die Worte des Schützen, nachdem er Dalei zu Boden gestreckt hatte. Der Polizeifunk hatte die Stimmung noch angeheizt: „Habt kein Erbarmen mit den Demonstranten!“

Nach offiziellen Angaben sind in Istanbul 533 Demonstranten festgenommen worden. Nach Abschluß der polizeilichen Verhöre sollen sie vor das Staatssicherheitsgericht gestellt werden, das für „Verbrechen gegen den Staat“ zuständig ist. Unabhängige Beobachter, unter anderem türkische Journalisten, gehen von einer erheblich größeren Anzahl Festgenommener aus. Die Situation der in den Polizeiwachen Einsitzenden ist erschreckend. Der Polizeireporter der Tageszeitung 'Cumhuriyet‘ verbrachte einige Zeit auf der Polizeiwache Sisli: „In einem kleinen Raum befanden sich 30 Personen. Alle blutüberströmt, die Kleidung zerrissen. Fing jemand zu reden an, wurde er mit Knüppeln und Schlägen zum Schweigen gebracht.“

Der sozialdemokratische Oppositionsführer Erdal Inönü, der

-symbolisch - mit Parteigenossen einen 100 Meter Spaziergang am 1.Mai unternahm, verurteilte unterdessen die Ausschreitungen der Polizei. „Es ist bedenklich, wenn der Innenminister, um die öffentliche Ordnung sicherzustellen, nur die Lösung sieht, Menschen umzubringen“, erklärte Inönü im Anschluß an die Ereignisse.

Der Istanbuler Polizeipräfekt Cahit Bayar, verantwortlich für den Einsatz, gab auf einer Pressekonferenz bekannt, daß ein Schußbefehl nicht erteilt worden sei. „Die Polizei handelt eigenständig im Rahmen des Polizeigesetzes.“ Auf das Drängen von Journalisten, die dem Präfekten berichteten, wie auf wehrlose Demonstranten geschossen worden war, tat er erstaunt. Ein Ermittlungsverfahren gegen Polizisten erwarte er nicht.

Der Staatsminister und stellvertretende Ministerpräsident Ali Bozer, der im Namen der Regierung Stellung zu den Vorfällen nahm, rechtfertigte den Polizeieinsatz. „Es ist ungerecht, aus dieser Geschichte politisches Kapital zu schlagen und unsere Regierung als arbeiterfeindlich hinzustellen. Wir haben nur den Gesetzen Geltung verschafft.“

Auf die Frage von Journalisten, wie sich ein Beitritt in die EG mit schießenden Polizisten am 1.Mai vereinbaren ließe, antwortete Bozer: „Ein wichtiges Prinzip in den EG -Mitgliedsländern ist die Rechtsstaatlichkeit. Und in der Türkei herrscht Rechtsstaatlichkeit.“ (siehe Interview)

Unterdessen wurde bekannt, daß die Gewerkschaftsfunktionäre, die zu den 1.Mai-Kundgebungen aufgerufen hatten, in ihren Gewerkschaftszentralen sitzengeblieben waren, während auf den Straßen der Terror herrschte. „Drei Zivilpolizisten suchten uns am 1.Mai in der Gewerkschaftszentrale auf“, berichtet der Vorsitzende der Erdölarbeitergewerkschaft, Münir Ceylan. „Sie drohten uns. Sie sagten, wenn ihr auf die Straße geht, werden wir schießen. Daraufhin haben wir die Kundgebung abgesagt.“ Offensichtlich erreichte die Absage der Kundgebung die Adressaten nicht oder diese wollten sie nicht zur Kenntnis nehmen. Vor vielen Fabrikgebäuden bildeten sich Züge, die bis zu ihrer Auflösung in Richtung der zentralen Kundgebungsplätze marschierten.

Ministerpräsident Özal, der durch das Verbot der 1.Mai -Demonstrationen gezielt die bürgerkriegsähnlichen Zustände auf Istanbuls Straßen provoziert hatte, hat die Vorfälle nicht kommentiert. Arg bedrängt von den Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst, die die massenhafte Teilnahme der Arbeiter am diesjährigen 1.Mai erklärt, träumt er weiterhin von seinem neoliberalen Entwicklungsplan für die türkische Gesellschaft. In den vergangenen zwei Wochen schwärmte er - auf einer Parteisitzung und vor dem Unternehmensverband - vom „Exportwunder Südkorea“. Er vergaß, das politische System in seinem Wunderland zu benennen: eine Diktatur.