: Der Homo relatens
■ Der „ganze“ Mensch bewegt die Welt, nicht nur sein Kopf / Die enfants terribles der Historiker trafen sich zur 3.Tagung der „Deutschen Gesellschaft für Psychohistorische Forschung“
Detlev Berentzen
Psychohistoriker? Nie gehört! Kein Wunder. Das sind die, die sich an Wochenenden „heimlich“ in der Universität treffen, hinter verschlossenen Türen debattieren und nur von Eingeweihten über eine ganz bestimmte Telefonnummer zu erreichen sind. So oder zumindest so ähnlich lief die dritte Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Psychohistorische Forschung“ an der Universität Frankfurt ab.
Dennoch: Alles Neue keimt zunächst im Verborgenen. Soviel zur Entschuldigung der dreißig „Geheimbündler“, die ihren Konvent andererseits unter Bedingungen veranstalteten, die den herkömmlichen Tagungsgänger in Erstaunen versetzen: Spannung und heitere Gelassenheit bestimmen die Tagung. Endlich einmal bleiben die Skeptiker und Pharisäer außen vor, die den Ansatz der Psychohistorie belächelt und allemal ein Transparent mit der Aufschrift „unwissenschaftlich“, „krasse Dummheit“, „reine Torheit“ hochhalten, wenn es um psychohistorische Forschung geht.
Der Frankfurter Historiker Aurel Ende weiß ein Lied davon zu singen: „Für die bist du nur ein isolierter Spinner!“ Seit Ende sich im Jahre 1980 der Psychohistorie zuwandte, sind zwar einige Jahre vergangen und manch eine(r) ist zu dem kleinen Kreis hinzugestoßen, doch man will auch jetzt noch immer unter sich bleiben. Im kleinen Tagungskreis kann man sich zunächst einmal unter relativ Gleichgesinnten seines Forschungsansatzes versichern und außerdem ist heute der da, der den Stein des Anstoßes ins Rollen brachte: Lloyd de Mause. Ihn will man erleben. Er war es, der die Historiker in den USA zum Rasen brachte (und heute noch bringt). Geschichtswissenschaft als „Geschichte der Psyche“, als Geschichte der Motivation von Individuen und Gruppen schreiben zu wollen: das grenzt an Blasphemie. Und da seit dem Jahre 1977 sein Buch Hört ihr die Kinder weinen als eine Betrachtung der psychogenetischen Geschichte der Kindheit in der Bundesrepublik vorliegt, ist der Konflikt auch hierzulande auf dem Tisch. (Im Juni erscheint ein weiteres Werk von de Mause: Grundlagen der Psychohistorie.)
Bei all dem ist Kindheit der zentrale Begriff. Kindheit und Erziehung in den geschichtlichen Epochen bilden die Grundlagen für die handelnden Individuen. De Mause erhärtet das in seinen beiden Frankfurter Vorträgen, die gleich das Ungewöhnliche sicht- und hörbar machen: Geschichte als die Geschichte von Inzest, sexuellem Mißbrauch und der Mißhandlung von Kindern. Tatsachen, die in der Geschichte sämtlicher Kulturen auffindbar sind. Kinder, die in Indien innerhalb der Familie von Bett zu Bett weitergereicht werden, Mädchen, deren Füße in China bis zur letzten Jahrhundertwende brutal gewickelt wurden oder die Mutter, die in Japan ihren adoleszenten Sohn masturbiert - sie sind Agenten der Geschichte. Nicht der Homo oeconomicus, nicht der Homo politicus. Der „Homo relatens“, der Mensch, der auf Grundlage seiner Erfahrungen in der Kindheit seine Beziehungen gestaltet, ist geschichtliches Agens. Wenn de Mause dann noch für die aktuelle Wirklichkeit Zahlen vorlegt, die den sexuellen Mißbrauch „der Hälfte“ aller Kinder belegen, dann kommt auch bei den „Gesellschaftern“ schon mal Unruhe auf. Friedhelm Nyssen, kritisch distanzierter Unterstützer der de Mausschen Psychohistorie und Lehrstuhlinhaber an der Frankfurter Uni stöhnt auf: Er könne doch wohl nicht in seinen Vorlesungen davon ausgehen, daß die Hälfte der StudentInnen, die da vor ihm sitzen, sexuell mißbraucht worden ist. Doch de Mause bleibt da unbeirrbar. Nicht daß er meine, in der Neuzeit habe der Mißbrauch zugenommen, er werde halt nur mehr und mehr aufgedeckt, weil allmählich eine Sensibilität für dieses Phänomen entstehe, betont er später im persönlichen Gespräch.
Wie eine Kindheit - jener berühmte „Alptraum“ ist, „aus dem wir gerade erst erwachen“ (de Mause) - den Erwachsenen für Unterdrückung disponibel macht, darüber klärt im Rahmen der Tagung noch ein anderer US-Wissenschaftler auf. Jerrold Atlas, praktizierender Hypnotherapeut, nimmt die charismatischen Führer aufs Korn - etwa die Wirkung eines Danton, Gandhi, Hitler oder Reagan. Seine These: Erst die Traumatisierungen der frühen Kindheit bereiten den Boden für das, was unter „Verführung der Massen“ oder „Massenwahn“ firmiert. Das Charisma der Führer entfaltet seine Wirkung, indem es den Boden früher Traumatisierungen nutzt, um Massen (Gruppen) zu hypnotisieren, sie in eben jenen Zustand zu versetzen, in den das einstige Kind durch Mißhandlung oder Mißbrauch versetzt wurde: Trance.
Die Voraussetzungen für solch kollektiven Wahn, betont Atlas, sind besonders dann gegeben, wenn gesellschaftliche Unterdrückung zunimmt, Wertsysteme zusammenbrechen, Krisen den Alltag bestimmen. Kollektive Regression ist die Antwort auf solche Zustände: „The masses rapidly slip into the hypnotic state, return to trauma and follow their leader.“ Nun, so neu ist das nicht. Doch wird hier ein Faden in die Jetztzeit gesponnen. Atlas tritt an zur aktuellen Provokatioln. Zusammen mit de Mause, der gern vom „Hitler in uns“ spricht. Der Mythos, Hitler sei bereits als Bestie geboren worden, ein „Betriebsunfall der Geschichte“ sozusagen, gerinnt auch hier zum Absurden und Abgeschmackten. Ebenso wie bei Helm Stierlein oder Alice Miller.
Da es aber weiterhin gilt, den Mythos der eigenen Unschuld zu erhalten (oder wiederherzustellen), kommen jede Menge kollektive aber auch individuelle Abwehrmechanismen ins Spiel. Die Analytikerin Anne Springer aus Berlin spricht von ihnen und wird brandaktuell, wenn sie unter anderem auch die taz als Beispiel für die Wiederkehr des Verdrängten anführt: Auch in Frankfurt macht das Attribut „gaskammervoll“ die Runde ebenso wie die Inflation der Begriffe in der linken Szene überhaupt. „Die Juden wurden in Gaskammern vergast, wir auf der Straße“, skandierten Demonstranten gegen die Startbahn West. Nichts schieht klar, auch nicht, was „Vergasung“ heißt. Dennoch wird überall der Konflikt mit der Nazivergangenheit der Mütter und Väter bearbeitet. Unbewußt meistens. Als Anne Springer den Fall einer Klientin referiert, die Zuflucht vor der Vergangenheit nahm, indem sie eine jüdische Identität phantasierte, um sich selbst zum Opfer zu stilisieren, da wird es still im Raum. Die „Geschichte der Psyche“, wie sie aus dem Nationalsozialismus zu lesen ist, bleibt nicht nur die Angelegenheit einer Klientin, eines Falles. Diese Geschichte ist der „Schatten“ (Nietzsche), dem niemand entfliehen kann. Kein Wunder also, daß sich gerade die „Deutsche Gesellschaft für Psychohistorische Forschung“ insbesondere dem Thema „Kindheit und Krieg“ widmen will.
An dieser Themenwahl wird klar, daß der psychohistorische Ansatz durchweg auch politische Ambitionen hat. Das macht ihn unbeliebt. Aktuell zu intervenieren ist nicht Sache von Wissenschaft - diesen schwer angestaubten Vorbehalt kennen wir. Die Psychohistoriker haben damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Die Palette der übrigen Themen, die über die Analyse von Arbeiterführern bis zur psychoökonomischen Betrachtung der Schweizer Wirtschaftskrise 1930 bis 1936 reichte, geben ein Beispiel dafür.
Die enfant terribles unter den Historikern stoßen mit dieser „Unbedarftheit“ Türen auf. Türen, hinter denen eine neue Sicht der bislang nur faktensammelnden Geschichtswissenschaft auf ihre Entfaltung wartet. Eine Sicht, die zunächst Abwehr erzeugt. Und, zugegeben, auch übermütige Purzelbäume schießt. Manchmal. Spaß macht das.
Doch bevor Geschichte weiterhin ein Produkt von entfremdeten Individuen bleibt, denen nicht klar ist, wie sie eigentlich zu den vielzitierten Subjekten der Geschichte werden, bietet der Ansatz einer „Geschichte der Psyche“ eine vielversprechende Möglichkeit zur Überwindung dieser Fremdheit. Was die Psychohistoriker schreiben ist beste Tradition der Aufklärung. Nur daß hier nicht alles „über den Kopf läuft“. Und wer will schon behaupten, daß es nur Köpfe sind, die Geschichte machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen