Mafiose Strukturen bald europaweit?

■ Der Boden ist bereitet für Mafiamethoden und die „organisierte Kriminalität / Aus Rom Werner Raith

Italiens Notenbankchef Azeglio Ciampi äußerte Mitte April in einer spektakulären Erklärung seine Besorgnis über eine „Durchdringung Europas mit mafiosen Geschäften“ und beklagte dabei auch „mangelnde Sensibilität anderer Länder gegenüber mafiosen Phänomenen“. Als Beleg konnte die Pressestelle Veröffentlichungen in der BRD zum Thema „Ausweitung der Mafia 1992“ fast nur aus der taz beibringen. Wir nehmen den Anlaß wahr und möchten mit diesem Tagesthema eine Diskussion über zwei besonders verdrängte Aspekte in Erinnerung rufen: die Ausbreitung mafioser Kultur in der BRD und das Verhältnis der Linken zur „organisierten Kriminalität“.

Die Anfrage des Polizeisprechers hat zunächst nichts Ungewöhnliches an sich: Ob es denn möglich wäre, daß ich, als „Mafiaspezialist“, eine Gruppe von Leuten „vor Ort“ über die organisierte Kriminalität in Italien informiere? Natürlich ist das möglich; aufgrund meiner Beunruhigung über das Vordringen ähnlicher Zustände in die BRD habe ich schon diverse Male vor Fachleuten über Geschichte und Struktur der Mafia in Italien gesprochen. Erstaunlich allerdings, daß diese Gruppe nicht nach Palermo oder Neapel will, sondern nur nach Rom, und daß das Angebot eines Treffens mit hervorragenden Mafiakennern nicht ankommt - ein Vortrag von mir genüge. Ob es nicht billiger wäre, ich käme nach Deutschland? Nein, nein, man wolle auch was von Rom sehen.

Neue Überraschung dann bei der schriftlichen Bestätigung: Nur zwei Polizisten werden dabeisein (der Pressesprecher und ein Abteilungsleiter). Ansonsten acht Journalisten - sowie ein Sparkassendirektor und sein Vize; bestätigt auf dem offiziellen Papier just dieser Sparkasse. Tatsächlich kommt dann, im Mai 1987, die Creme de la creme der örtlichen Polizeireporter, von ARD und ZDF über RTL bis 'Bild‘, untergebracht im feinen Hotel Forum, freigehalten von den Bankern. Die 1.000 Mark für meine Frau und mich für Vortrag und drei Tage Romführung erhalte ich ohne Quittung; von den Kollegen sei, wie der Banker sagt, keine Gegenleistung für die 2.000-Mark-Reise gefordert.

Ich stelle meinen Vortrag ganz darauf ab, wie in Italien die Einnistung der Mafia begann: mit einer immer engeren Verfilzung derer, die einander eigentlich kontrollieren sollten, von Politikern, Beamten, Geschäftsleuten, Journalisten - so lange, bis dann jeder jeden in der Hand hatte. Keiner der Romreisenden kommt auf die Idee, daß auch er gerade in eine solche Verfilzung hineinläuft; selbst als ich die Geschichte kurz danach unter dem Titel Meine Mafia - deine Mafia in meinem Buch Italien den Redaktionen zusende, kommt keine Reaktion. Wir sind eben anders, hatte einer der Romreisenden gesagt, „wir würden den Anfängen wehren“. Eine Erfahrung, mit der ich seither auf vielen Expertentagungen meine Beunruhigung über die Entwicklung in der Bundesrepublik begründe. Da ich keine Namen und Orte nenne, sehe ich mich kurz danach regelmäßig von einem halben Dutzend Zuhörer beiseite genommen, die meinen, daß das „bestimmt bei uns passiert ist - oder?“: Beamte wie auch Pressekollegen halten ähnliches bei sich offenbar für ganz und gar nicht ausgeschlossen; mitunter höre ich dann ein Genauso-wie-bei-uns; aber: „Das bitte nicht weitergeben.“ Positiv: Die Mehrheit der Beamten und Journalisten ist aufrichtig entsetzt.

Kein Zweifel: Niemand kann der Polizei, der Sparkasse, den Journalisten anläßlich der Romreise Kriminelles vorwerfen. Doch wie wollen diese Polizisten denn nun im Zweifelsfall gegen diese Bank (der ich ausdrücklich nichts unterstelle) ermitteln, wie diese Journalisten kritisch über die Polizei oder die Bank berichten, wenn sie fürchten müssen, daß sie dann jemand an ihre nur notdürftig als „Infofahrt“ kaschierte Vergnügungsreise auf Sparkassenkosten erinnert? Solange wir „organisierte Kriminalität“ nur als schlichte Bandenbildung ansehen, wird uns ihre Bekämpfung eher als technisches, polizeitaktisches oder auch gesetzgeberisches Problem erscheinen, und da zeigt sich ein Großteil der Öffentlichkeit, sofern nicht gerade selbst betroffen, fast automatisch indifferent (siehe nebenstehender Artikel). Doch gerade die Geschichte der „großen“ organisierten Kriminalität, speziell der Mafia und des amerikanischen „organized crime“, lehrt: Was einst als das übliche randständige Unterweltswesen galt, infiltriert sich immer mehr in die Organismen der Gesellschaft, bildet nach und nach einen unauflöslichen Filz aus illegalen, halblegalen und legalen Sektoren - dann nämlich, wenn sich in dieser Gesellschaft ein entsprechendes Klima ausgebildet hat, das die für Demokratie unerläßliche gegenseitige Kontrolle ausschaltet oder einschränkt. Speziell wenn legitimierte Machtträger ihr eigenes Verhalten immer näher an das der Kriminellen heranführen und sich dann selbst amnestieren. Höchstes Alarmzeichen für die Bundesrepublik muß es daher sein, daß Italiens Notenbank und Börsenaufsicht geradezu einen Heißhunger sizilianischer Mafiaclans auf Anlagen in der BRD feststellen - in einem Land, das sie bisher eher gefürchtet und allenfalls für Schutzgelderpressung und Rauschgiftabsatz tauglich gehalten haben. Doch die bezeichnenderweise gerade in Sizilien überaus breit berichteten - Skandale a la Flick und das Wiedereinrücken verurteilter Politiker in hohe Stellungen läßt die BRD offenbar kulturell reif erscheinen für die Durchdringung mit mafioser Aktivität. Fraglich, ob es dazu noch großer Anstöße von außen bedarf - Skandale wie die Bauaffären in Berlin und in Hamburg, die Verwicklung von Polizisten in Geschäfte krimineller Ringe in Hamburg und Frankfurt, die Annäherung von Entscheidungsträgern in Politik und Administration an das „Milieu“ mit Bordellbesuchen und Großgeschenken - all das zeigt: Wir sind auch ohne „Hilfe“ von außen auf dem besten Weg zu einer Mafiosierung. Sicher: Noch ist zum Beispiel die politische Ebene nicht so direkt mit der blanken Gewaltkriminalität verbündet wie in Teilen Italiens, wo man unliebsame Konkurrenten oder neugierige Fahnder einfach wegschießt, noch hat selbst innerhalb der Gruppen die Mordquote keine derartigen Ausmaße angenommen wie die tausend jährlichen Todesschüsse zwischen Neapel und Palermo. Und dennoch: Auch in Italien hat sich diese Gewaltbereitschaft, die blanke Kriegsmentalität der Gruppen auch erst so massiv herausgebildet, nachdem die politische Kultur entsprechende Tiefststände erreicht hatte, Skandale niemanden mehr erstaunten, Korrupte ruhig in ihren Ämtern blieben. Die Mafia konnte nur deshalb in den siebziger und achtziger Jahren so ungehindert ganze Parteisektionen unterwandern, Polizeipräsidien und Gerichtshöfe zur Untätigkeit veranlassen, weil sich das Verhalten der legalen Machtträger längst immer mehr dem der Bosse angenähert hatte, Korruption als nahezu normale politische Nebentätigkeit galt und sich ein unauflösliches Amalgam aus Politikern, Unternehmern, Administratoren, von Justiz, Presse und Kirche herausgebildet hatte, das ein gegenseitiges Beaufsichtigen nicht mehr zuließ. Wo es noch Aufmüpfige gab, war es unter solchen Umständen nicht schwer, sie durch Intrigen kaltzustellen, zu versetzen oder, im Notfall, ermorden zu lassen: Wer darüber entsetzt war, war zu schwach zum Gegenhalten, und wer stark genug dazu gewesen wäre, tat es nicht, weil er erpreßbar war.

Ungestraft können so bis heute Mörder ihren Opfern sogar noch ein „Paranoiker“ ins Grab nachrufen - wie erst vorige Woche vor Millionen TV-Zuschauern noch einmal der Oberboß Luciano Liggio dem 1978 ermordeten Untersuchungsrichter Cesare Terranova. So weit, daß man Polizisten reihenweise umschießt und dann auch noch zynisch beschimpft, sind wir noch nicht, und gewiß ist viel an der italienischen Mafia an lokale Eigenarten gebunden und so nicht übertragbar. Doch wer miterlebt hat, wie sich die Mafia in den letzten drei Jahrzehnten parallel zur Aushöhlung eines Teils der politischen Kultur in immer wichtigeren Gesellschaftsbereichen eingenistet hat, dem wird angst und bange, wenn er in der BRD nun eben dieselben Verharmlosungen von Bestechlichkeit und Postenschacher, von Filz und dunkelmännerischer Kungelei wahrnimmt, die auch in Italien am Anfang der Mafiosierung der Gesellschaft stand.