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68 nachgelesen

■ J.Staadt hat sich Veröffentlichungen zur 68er Revolte angesehen

„Bier statt 68er“ und „20 Jahre 68 sind genug“ lauteten Graffiti während der jüngsten Studentenstreiks. Selbst gestandenen 68er Besetzerkadern, des Otto-Suhr-Instituts, verweigerten ihre heutigen NachfolgerInnen den Zutritt und damit die Verrichtung des „öffentlichen Dienstes“. Aber trotz der 68er „Ereignisbewacher“ fanden „autonome Seminare“, Arbeitsgruppen und Diskussionsveranstaltungen über das Ereignis statt. Vielen der heutigen Bewegungsaktivisten erschien zu popelig, was ihnen ihre ins Amt revoltierten Professoren als das 68er Erbe antrugen. „Je nach Standpunkt läßt sich alles oder auch fast nichts auf das 68er-Konto gutschreiben, da es niemand gibt, der dieses Konto verwaltet“, vermutet Lothar Baier1, während Silvia Bovenschen die ganze Generation als Ereignisverweser, als „vermutlich schlechte Zeugen eines interessanten Ereignisses“ sieht, von denen „sich kein Mensch mehr vorstellen kann, daß (sie) einmal originell waren„2. Überblicke und Überflüge

Tobias Mündemann, der 1968 „gerade die Segnungen des Sandkastens“ entdeckte, hat sich mit „Sympathie und Skepsis“ auf die Reise gemacht und über 60 frühere Aktivisten und Mitläufer gefragt, wie es war und was aus ihnen geworden ist.3 Dabei präsentiert Mündemann neben der Ereignisgeschichte in den biographischen Auskünften seiner GesprächspartnerInnen oft widersprüchliche Entwicklungslinien und Erklärungsansätze, die zu weiterer Auseinandersetzung anregen. Leider zu viele Unileute, kaum jemand außerhalb des akademischen Milieus, wurden befragt. Als erfolgreich, wenn auch mit Eintrübungen, beurteilt Mündemann die 68er, „weil sie überall sitzen, im Bundestag, in Parteien, Instituten, Behörden usw.“. Resümierend steht am Ende des Buches Wolfgang Lefevres Antwort auf die Frage nach den Konsequenzen von 68: „Es ist noch nicht entschieden.“

„Fremd wie eine historische Abhandlung über die Eßgewohnheiten im ausgehenden Mittelalter“ kommt hingegen ausgerechnet Dany Cohn-Bendit die 68er Revolte „in ihren großen Worten und großen kleinen Taten“ vor. Im Jahr 1988 habe die „apokalyptische Perspektive längst die revolutionäre verdrängt“. Cohn-Bendit reicht seinem Buch zur Fernsehserie mit biographischen Interviews4 eine gemeinsam mit Reinhard Mohr verfaßte Geschichte pur nach5. Der „Blick der Fremdheit“, den Cohn-Bendit und Mohr im Vorwort für „das kleine Geschichtsbuch“ versprechen, beschränkt sich auf Kapitelüberschriften a la Brecht. Ansonsten wurde aus etwa 20 erwähnten und mehreren ungenannten Büchern ein 68er -Cocktail gemixt, der seine Würze nicht unwesentlich Jürgen Miermeisters Dutschkebiographie verdankt.6

Sehr persönlich liest sich Volkhard Brandes‘ Erinnerungsband Wie der Stein ins Rollen kam7. Brandes, Mitglied des SDS-München, berichtet anhand seiner Reiseberichte, Gedichte und Notizen über alles, was er an Eindrücken, politischen Entwicklungen, Aktionen und Beziehungskisten zwischen 1960-70 in Europa, Afrika, den USA und Südamerika erlebt hat. Wer sich auf Brandes‘ hemdsärmelige Prosa und Lyrik einläßt, erfährt einige köstliche Details. Etwa wie in München ein Wasserwerfer aus kürzester Entfernung den offenen weißen Chevrolet der Gröbenzeller Kommune voll Wasser pumpte, weil sich dahinter „das Häuflein der Aufrechten um eine rote Fahne geschart“ hatten, und wie Autor Brandes dabei das Briefmarkenmotiv mit dem Bild der US-Soldaten einfiel, die unter dem Feuer der Japaner das Sternenbanner auf der Insel Iwo Jima hißten. Utopie oder Müsli?

Ins Schärmen gerät auch der frühere 'Zitty'-Chef und ehemalige „Lehrbeauftragte für Erkenntnistheorie an der FU“, Rainer Bieling, wenn er auf die „heroische Periode der Revolte“ zu sprechen kommt, als „Tausende, Hunderttausende einzelne (...) die Geschichte in die eigene Hand“ nahmen8. Kurz danach offenbar tief enttäuscht vom „Verrat der Studenten an ihrer ureigenen Revolte“ und der Hinwendung zur Arbeiterklasse, muß Bieling die Basisgruppe Spandau verlassen und „Tränen der Revolution“ geweint haben. Erkenntnistheoretisch bietet er heute den 68ern eine originelle Erklärung ihrer bedauernswerten Lage und einen Ausweg aus ihrem „unglücklichen Bewußtsein, an dem sie selber schuld sind“. Unglücklich seien die 68er, weil sie von einem „doppelten Schuldgefühl“ geplagt würden, „nicht nur versagt zu haben, sondern aus dem Versagen auch noch Gewinn zu ziehen“. Statt für ihre revolutionäre Umtriebigkeit im Gefängnis zu sitzen, leben sie gut „in einer Gesellschaft, die sie im Innersten ihres Herzens ablehnen“. Daher ihr unglückliches Bewußtsein, das sie fortwährend mit „Utopie als Droge“ am Leben hielten. Heilung verspreche nur eine Totalamputation. „Das intellektuelle Seziermesser ist gefragt, um die Strukturelemente der destruktiven Depression freizulegen.“ Mehr kann und darf hier nicht verraten werden, um den LeserInnen die Spannung nicht zu nehmen.

Lustig geht es auch in Teufels Küche9 zu. Zwar enthält das Buch neben vielen schönen Sachen nur einen Artikel über die 68er, der ist aber dafür das Bekennerschreiben eines wirklichen Triebtäters: Wir Traumtänzer 20 Jahre danach ein 'Achtundsechziger‘ blickt zurück. Dieser Artikel überführt Totalamputeur Bieling eines schweren Kunstfehlers. Teufel enthüllt dort nämlich, welche Droge ihn tatsächlich zu ständiger Beschaffungskriminalität treibt: Müsli. SPD, Gewerkschaften

und Apo

Wunderbar erzählte der Frankfurter Kabarettist Mathias Beltz auf einer Arbeitstagung im Haus der Gewerkschaftsjugend (Oberursel) über seine Zeit als Agitator des „revolutionären Kampfes“ bei Opel Rüsselsheim.10 Die RK-Leute hätten sich „sofort dem Massenarbeiter zugewandt, der bei Opel in erster Linie in der Person des Italieners oder Spaniers steckte“, und hätten „die Belegschaft aufgehetzt“. Im Oktober 1971 sei „in die Betriebsversammlung eine Demonstration von vielleicht 1.000 oder 1.500 hauptsächlich Italienern und Spaniern hereinmarschiert und“ hätten „eine Mark für alle“ gefordert. „Die Betriebsversammlung mußte abgebrochen werden, es flogen die Stuhlbeine, und es gab so richtig Putz, wie wir uns das gedacht hatten.“ Es bliebe unerklärlich, warum bei Betriebskadern wie Mathias Beltz das Proletariat nicht lachend zur Revolution schritt, wäre nicht auch Joscha Schmierer durch einen Beitrag vertreten (vgl. auch 1). Nachzulesen in den jetzt veröffentlichten Protokollen der Arbeitstagung. Erfreulich, daß die in dem Band enthaltenen Referate und Kontroversen über das Verhältnis von Gewerkschaften und Verfassung nach 1945 (Pirker), über den SDS (Rabehl) und die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung (Seifert) nunmehr im Rahmen der Jugendbildungsarbeit des DGB diskutiert werden.

Die Kampagne gegen die Notstandsgesetze stellt für Karl A. Otto den Kulminationspunkt der Apo dar.11 Er interpretiert die Entstehung der Apo als Quintessenz der Organisationsgeschichte von drei „strukturbildenden Organisationskernen“ - KfDA, Kuratorium Notstand und Demokratie, SDS. Gründe für das schnelle Ende sieht Karl A. Otto in den „gesellschaftlichen Rahmenbedingungen“, aber auch in dem „sich rasch ausbreitenden subkulturellen Protestmilieu (...) und in Tendenzen zur Verselbständigung der studentischen Opposition“. SDS und Studentenbewegung haben es Karl A. Otto überhaupt nicht angetan. „Die undifferenzierte Gleichsetzung der Apo mit dieser Bewegung, zumal ihrer Darstellung als 'Studentenbewegung‘ oder 'Jugendprotest‘ - entspricht nicht dem geschichtlichen Sachverhalt.“ Vielmehr habe schon 1967/68 die Ostermarschbewegung und die daraus hervorgegangene Kampagne für Demokratie und Abrüstung (KfDA) „politisch und organisatorisch das Zentrum der außerparlamentarischen Opposition“ gebildet. Otto veröffentlicht in seinem Buch interessante Dokumente, viele davon wichtig zum Verständnis der Bündnispolitik der illegalen KPD in den Kampagnen der 60er Jahre. Entgegen der im Vorwort genannten Gründe für den Zerfall der KfDA werden in den Dokumenten zumindest „Bündnisprobleme nach der CSSR-Intervention 1968“ erwähnt. Bewerten möchte Otto diese Friedenstat des Warschauer Paktes nicht, und folgerichtig kommen bewußtseinsbildende Einflüsse, die das gesellschaftliche System der Ostblockstaaten auf Theorie und Praxis der 68er Revolte ausübte, in seinem Buch nicht vor.

Die lassen sich in Bernd Rabehls politischer Geschichte der Freien Universität nachlesen.12 Rabehl, selbst vor 1961 Student der Ostberliner Humboldt-Universität, interpretiert vor dem Szenario der sowjetischen und amerikanischen Deutschlandpolitik die Entstehung der FU, ihre Entwicklung bis zur Revolte, die gescheiterte Reform und den Rachefeldzug von SPD- und CDU-Senaten.

Ebenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit beginnt Tilmann Fichters Arbeit über die Geschichte des SDS.13 Fichter berichtet detailliert über die Entwicklung von der Gründungsphase 1946 bis zum Rausschmiß des SDS aus der SPD 1961. In seinem Urteil, das mehr als notwendig von seiner Hinwendung zur Sozialdemokratie geprägt ist, gerät die Trennung von SPD und SDS zum historischen Mißverständnis. „Theorielosigkeit bzw. Theoriefeindlichkeit“ habe sich die SPD damit eingehandelt und anstelle der Inspiration Bürokratismus und Routine gesetzt. In einem „Ausblick auf die Revolte“ kritisiert er, daß die „Berliner Schule“ um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl sich in der subversiven Aktion mit dem „utopisch-aktionistischen Revolutionsmodell“ der Münchner Sektion um Dieter Kunzelmann zusammenfand, „obgleich die Differenzen nicht ausdiskutiert waren“. Trotzdem errangen die Antiautoritären Einfluß auf den SDS, was dazu führte, daß alsbald Studenten und SPD -Kommunalpolitiker aneinandergeraten seien: „Aber schon bald verstrickten sich die politisierten Studenten gerade in den beiden sozialdemokratisch verwalteten Großstädten Berlin und Frankfurt in einen Dauerkonflikt mit den SPD -Kommunalpolitikern vor Ort.“ Unverkennbar ist ein - vorerst allerdings gescheiterter - SPD-Kommunalpolitiker Tilmann Fichters Hoffnungsträger: Peter Glotz. Der bewaffnete Kampf

Neben Büchern und Texten, die aus Gefängniszellen heraus allgemeine und persönliche Konsequenzen des bewaffneten Kampfes behandeln14, erschien bei Suhrkamp eine zweibändige Untersuchung über den Angriff auf das Herz des Staates15. Band eins enthält Analysen zu Entstehung und Geschichte des bewaffneten Kampfes sowie des „Terrorismus -Diskurses“ in Öffentlichkeit und Wissenschaft, im zweiten Band werden die Entwicklungen in Italien, Frankreich und den Niederlanden untersucht. Sebastian Scheerer schildert in seinem Beitrag Deutschland: Die ausgebürgerte Linke ohne die übliche ritualisierte Diffamierung und Distanzierung die Entstehung „sozialrevolutionärer Gewalt“ vor dem Hintergrund der Geschichte der Bundesrepublik und ihrer linken Oppositionsbewegungen. Herausgearbeitet wird, wie aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen „die Einschätzung des bewaffneten Kampfes als einer Drohung gegen den Bestand des Systems insgesamt (...) sowohl von der RAF als auch von den herausgeforderten Instanzen gefördert“ worden sei. Immerhin sei zum Beispiel der polizeiliche Sicherheitsapparat von 1960 bis 1980 um über 70.000 Beamte angewachsen und der Personalbestand des Bundeskriminalamts von 933 (1969) auf 2.600 (1980) gestiegen. Scheerer analysiert, in welchem Zusammenhang mit der 68er Revolte und der Reaktion des Staates die Entstehung bewaffneter Untergrundgruppen und des Terrorismus in der Bundesrepublik stehen - ein überfälliger Befreiungsschlag, zumindest was die wissenschaftliche Diskussion betrifft.

Der Bildband von Werner Kohn (siehe Abbildung) In der Provinz, 196816 enthält zeitgeschichtlich-fotografische Kostbarkeiten, die, weil sie den BetrachterInnen nicht durch erläuternde Texte entschlüsselt werden, leider nur für Insider von Wert sein können.

J. Staadt

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