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Von Mogadischu zum Lausitzer Platz

■ Ein „1.Mai“ mit Jean Baudrillard

Rechnen wir ab: 335 verletzte Polizisten, ein Dutzend abgefackelte Autos, Woolworth und Texaco angekokelt, Getränkeläden geplündert und Sex-Shops entglast - Strich drunter und addieren: Das gibt „Beirut“, wie die 'BZ‘ titelte. Identifizierbar, analysierbar, quantifizierbar: die rechte Seite der Gleichung, wie immer. Auf der linken: Leere. Eine Gleichung, die nicht aufgeht, eine Gleichung, die nicht gleich ist. Unerträglich. In den letzten beiden Jahren konnten linke Rechnungsprüfer die Leerstellen noch problemlos auffüllen: Am 1.Mai 1987 mit Marginal- und Sozialtheorien, ein Jahr später mit knüppelnden Polizisten („ohne Bullen keine Randale“).

Dieses Jahr jedoch, angesichts der „Deeskalationsstrategie“ des rot-grünen Senats, bleibt sie leer, die linke Seite dieser Gleichung; in diesem Jahr gähnt dort nur ein großes schwarzes Loch; nicht auszumachen diesmal das Motiv, die Ursache, der Sinn. „Blinder Haß“, konstatiert die taz, die AL sieht „keinerlei politische Zielrichtung“, und selbst die Autonomen kritisieren die „völlig sinnlose Militanz“. Bis zum 1.Mai 1989 konnte man sich mit diesen Verweisen auf „Sinn“ und „Ziel“ der sich empörenden Rechten erwehren (die sich nie wegen des Sachschadens, sondern ausschließlich wegen der Ohn-Macht des Staates - ihres Staates - empörte); seit dem 1.Mai 1989 klafft vor der Linken ein großes Legitimationsloch. Aber das Grundproblem liegt nicht darin, neue Legitimationsstrategien zu entwickeln („gegen den rot -grünen Senat“, „gegen das Schweinesystem“), vielmehr muß das gesamte mühsam errichtete „Verhältnis zur Gewalt“ einer grundsätztlichen Revision unterzogen werden - was gleichzeitig auch ein neues Verhältnis zur „Politik“, zum „subversiven Eingreifen“ und zum „Recht-haben-Wollen“ erfordert.

„Anstatt die Wiederkehr einer atavistischen Gewalt zu bejammern, sollte man sich erst einmal darüber klar werden, daß es unsere eigene Modernität, unsere Hyper-Modernität ist, die diese Art von Gewalt produziert“ - was Baudrillard über die „simulierte Gewalt“ der Liverpooler Fans im Brüsseler Heysel-Stadion schreibt, gilt nicht weniger für die Mai-Krawalle in Kreuzberg: Gewalt, bisher in einigen linken Theorien zum legitimen Mittel der Forderung (mehr Arbeitsplätze, billigere Wohnungen, bessere Studienbedingungen...) degeneriert, erfüllt plötzlich keine „zielgerichtete“ und „sinnvolle“ Funktion des politischen Eingreifens mehr; vielmehr ist die radikale Umsetzung der in der medial versetzten Hyper-Modernität geforderten Partizipation - Partizipation nicht an Entscheidungsprozessen, sondern Partizipation an der Produktion simulierter Ereignisse (Staatsbesuche, Santionierung durch Abbruch diplomatischer Beziehungen...).

Zwei Wege kann man einschlagen, um sich dem Lausitzer Platz an einem 1.Mai zu nähern: Der eine führt vom Brüsseler Heysel-Stadion über die Bronx, der andere über Mogadischu und Stammheim.

Während das Spiel im Heysel-Stadion Spektakel war nur für einige zehntausend Zuschauer auf den Rängen, so konnten Millionen von Fernsehzuschauern zumindest an einem entkörperten Spektakel „teilnehmen“: „Wir stoßen hier, wie auch bei fast allen anderen Gelegenheiten, auf eine Antizipation der Gewalt durch die Medien. (...) Und dies ist es auch, was es unmöglich macht, ihr reale Ursachen zuzuschreiben (politische, soziologische, psychologische: alle Erklärungen dieser Art scheitern).“ (Baudrillard)

Acht Seiten spendete die 'BZ‘ am Dienstag, am Mittwoch zieht die taz nach und widmet der „Schande für die Linken“ den gesamten Berlin-Teil, ARD und ZDF filmen in der ersten Reihe, während der RTL-Reporter so blöd ist, sich die Kamera klauen zu lassen. Dieser Aufwand also ganz allein, um über ein paar gegrillte Würstchen mit Kartoffelsalat zu berichten? Sicherlich nicht, sondern: 'BZ‘ und taz, RTL und ARD, SFB und Radio 100 erwarteten sehnlichst das Ereignis, und nur für sie haben es die „Verbrecher, Rabauken und Anarchisten“ ('BZ‘) beziehungsweise „brandschatzende Horden“ (taz) inszeniert. Daß dieses Ereignis ein simuliertes war, kümmert niemanden der sich nun lautstark Empörenden.

Von Brüssel in die Bronx: „Es ist kein Zufall, daß die Autos brennen, wenn die Straße wieder zum sozialen Raum wird.“ (Baudrillard) Baudrillards hypermoderne Gesellschaft ist keine Gesellschaft. Die Gesellschaft als umfassender, totaler Rahmen für konsensfähige Individuen und Gruppen hat ihren Bankrott angemeldet. Im gleichen Maße wie sich die totalitären Diskurse (wozu auch linke Diskurse, soweit auf Repräsentation anderer aufgebaut, gehören) verflüchtigen, in diesem Maße gewinnen Manifestationen einer gemeinschaftlichen Identität an Bedeutung. Genauso wie sich die Ghetto-Sprayer der Bronx (beliebige) Identitäten zulegen - Supercool, Snake, Spider -, genauso schaffen sich auch die „Autonomen“ über diverse Gesten - wozu die Haßkappe ebenso gehört wie das Steinewerfen - eine spezifische Identität als Gemeinschaft. Einher mit dieser (anonymen) Identität geht das Markieren des eigenen Territoriums unser Kiez, befreite Zonen in den Schlachten mit der Polizei (das „Schweinesystem“ und die Gesellschaft verkörpernd). Das Regelsystem der Gesellschaft wird mit dem eigenen Regelsystem konfrontiert - wenn die taz so meint, darauf hinweisen zu müssen, daß Autos „ohne Ansehen des Fabrikats“ angezündet wurden, so erkennt sie diese Gemeinschaftsregeln natürlich an. Identität schaffen, das eigene Territorium abstecken - dazu bedarf es keiner dezidiert politischen Haltung oder Parole. Die Graffiti in der Bronx und die Steine am Lausitzer Platz bedeuten nur eines: Dies hier ist unser Raum (und genau deshalb hat niemand Lust, am 1.Mai Fensterscheiben am Kudamm einzuwerfen, sondern nur die im Kiez).

Am Ende des ersten Weges: Heysel. „Diese Ereignisse sind der Spiegel unseres eigenen Verschwindens als politische Gesellschaft.“ (Baudrillard) Was auch für den Lausitzer Platz gilt.

Am Anfang des zweiten Weges: Mogadischu. Sinnlose Opfer. Gescheiterte Entführung. Tod der „Genossen“. Und wieder: Auch dieser sinnlos. „Rechts sieht man im Terrorismus schlichtweg ein Verbrechen wider die Menschlichkeit, links, heuchlerischer, ein Verbrechen wider den Sinn.“ (Baudrillard) Attentate, Erpressungen, Steine werfen, Autos anzünden: Der Sinn legitimiert den Toten/Verletzten. Ein Tod ist nur ein guter Tod, wenn er sich in den Dienst dieses oder jenes Anliegens stellen läßt (der Märtyrerstatus der Stammheim-Toten gibt diesen endlich wieder einen Sinn und tröstet so die SympathisantInnen ungemein). Wohingegen das eigentlich Subversive dieser Aktionen in ihrer Sinn -Losigkeit liegt: Die Angst im Deutschen Herbst war nicht die Angst davor, das nächste Opfer zu sein, sondern die Angst davor, ein sinnloses Opfer zu sein.

Zwischenlandung in Teheran: Die Angst vor Khomeini ist nicht die Angst vor Attentaten, sondern die Angst vor der Irrationalität: Eine Doktrin, welche das Leben nicht an die erste Stelle setzt (und mit ihr Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit), muß dämonisch und böse sein. „Nach einem kräfteverzehrenden Krieg (...) verfügt der Ayatollah über eine einzigartige, niederträchtige und immaterielle Waffe: Das Prinzip des Bösen. Eine Haltung radikaler Ablehnung der westlichen Werte des Fortschritts, der politischen Moral, der Demokratie und so weiter.“ (Baudrillard)

Landung: Lausitzer Platz. Das eigentlich Subversive des 1.Mai 1989 liegt in seiner Sinnlosigkeit. In dieser Hinsicht ist die vorangegangene „Kundgebung“ („rot-grüne Kosmetik“) reaktionär zu nennen: Wer sich auf den politischen Diskurs (den Diskurs der Werte, der Repräsentation) einläßt, restauriert ihn. Oder anders: Wer „nein“ sagt, nimmt die Frage ernst. Die Steinewerfer vom 1.Mai nehmen die Frage nicht ernst, sie antworten nicht, sie fordern nur heraus (nicht, um zu „gewinnen“), sie versichern sich nur ihrer eigenen Identität als Gemeinschaft. „Denn man muß hier nochmals in aller Entschiedenheit wiederholen, daß es nicht darum geht, die Macht auf ihrem eigenen Terrain zu bekämpfen, sondern darum, der politischen Ordnung der Stärke eine andere Ordnung entgegenzusetzen, die symbolische Ordnung der Herausforderung.“ (Baudrillard) Diese Herausforderung liegt im Ritual - „nicht zielgerichtet“, „blind“ und „sinnlos“.

Die Gleichung wird also auch weiterhin leer bleiben müssen, auf der linken Seite zumindest. Nichtsdestotrotz kein Grund, in Verzweiflung und Fatalismus zu versinken - ein Trost von Jerry Rubin: „Der Brand eines Mietshauses gibt den Menschen Gelegenheit, ihre Nachbarn kennenzulernen.“

Thomas Langhoff

Jean Baudrillard: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin, Merve Verlag, 1978.

Jean Baudrillard: „Der Druckabfall im Westen“. In: taz, 15.4.'89, S.22.

Jean Baudrillard: „El 'sindrome de Heysel'“. In 'El Pais‘, 27.2.'89, S.8 (Deportes).

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