: Wohnungssuche Open-air
■ Am Mittwoch nachmittag besetzte ein Obdachloser einen Aussichtsturm am Kreuzberger Mariannenplatz / „Wohnung“ mit Blick über die Mauer wurde am Abend von der Polizei geräumt
Zimmer mit Aussicht: Den Blick über die Mauer wollte sich ein Obdachloser bei seiner Suche nach einer Wohnung nicht entgehen lassen. Er besetzte am Mittwoch nachmittag kurzerhand einen Aussichtsturm an der Kreuzberger Thomaskirche am Mariannenplatz, um sich dort häuslich niederzulassen. Obwohl der Wohnungslose über einen Berechtigungsschein zum Übernachten in einer Pension verfügt, wollte ihn keine der angesteuerten Schlafstätten aufnehmen. Daraufhin war der Wohnungssuchende auf den Turm gekommen.
Nicht nur um Symbolik, sondern um eine wohnliche Atmosphäre ging es dem Turmokkupanten. Neben einer schwarzen Fahne als besitzanzeigendes Windspiel hatte der Obdachlose auch „innen„architektonische Überlegungen am Turm getätigt. Die Plattform des von ihm auserkorenen Hochsitzes legte er mit schwarzem Teppich aus und plazierte darauf vier Stühle. Die seien für die Vertreter der Alliierten, so die Begründung des Obdachlosen, der damit seine Verhandlungsbereitschaft in Sachen Wohnraumbeschaffung signalisieren wollte.
Ein Getränkestand sowie ein Informationstisch für interessierte Bürger mit und ohne Wohnung fanden im Parterre des Aussichtsturmes Platz, wo der Turmherr, wie einst Luther seine Thesen, die Berliner Verträge von 1972 an die Hochsitzbalken genagelt hatte.
Erst bei der Entrichtung eines Eintrittsgeldes von fünf Groschen an den Besetzer durften Herr und Frau Tourist das Treppchen des Aussichtsturmes besteigen. Tragik der Ereignisse: Nicht die erwarteten Alliierten oder Touristen kamen auf den Aussichtsturm, sondern die Polizei. Sie räumte am Mittwoch abend in der Abwesenheit des Höhenbewohners kräftig auf. Binnen Kürze ragte das Aussichtsgerippe wieder in seiner ihm angeborenen Häßlichkeit in den Abendhimmel. Der Mann mit dem Hang für kreatives Wohnen will jedoch nicht aufgeben. Seine Absicht: Alle Aussichtstürme besetzen und als Wohnraum verwenden!
cb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen