: Realität und Vision-betr.: "Stoppt den grünen Schweigemarsch", "Nehmen Sie doch mal die Reden von Herrn Kohl", taz vom 20.5.89
betr.: „Stoppt den grünen Schweigemarsch“, „Nehmen Sie doch mal die Reden von Herrn Kohl“, taz vom 20.5.89
Alle Achtung für die fundamental (das heißt eben gar nicht fundamentalistisch) ansetzende Zeitdiagnose „Stoppt den grünen Schweigemarsch auf Bonn“.
Kernfrage ist und bleibt: Sind sie Realität oder Vision, die von Euch apostrophierten „gesellschaftlichen Unterströme, die auf eine gesellschaftlich-politische Gezeitenwende hinweisen“? Beziehungsweise die Folgefragen: Wie verhalten sich Realität und Vision zueinander, RealistInnen und VisionärInnen. Das gilt ja nicht nur für das Verhältnis zwischen Machtpolitik der Wirtschaft und menschenfreundlicher Gesellschaftspolitik, wie Ihr sie wollt, oder für den Umgang zwischen SPD und Grünen. Das spielt inklusive aller „staatsreligiösen“ Essentials und Utopien bei den Grünen selber, die selber immer auch Entstehungs- und Austragungsort der verschiedenen Strömungen sind, die unsere Gesellschaft bestimmen. Die Münsteraner BDK zeigte was davon.
In der gleichen taz gibt es 23 Seiten später das Gespräch mit dem amerikanischen Psycho-Historiker Lloyd de Mause, der die unbewußten Determinanten von Geschichte aufklären helfen will. Seine Analysenansätze zur Resonanz auf Phantasiebebegriffen (Leben, Haß, Morden, Sterben, Einheit...) und gesellschaftlichen Reaktionen auf depressive Untergründe in den Reden politischer „Führer“ wie Reagan, Kohl... können meines Erachtens dem grünen Papier zu noch stärkerer theoretischer Abstützung verhelfen.
Dazu müßte noch eine gründlichere Analyse der formalen Wechselwirkvorgänge kommen, die unabhängig von noch so tollen oder miesen Inhalten die Lebenswirklichkeit der BürgerInnen prägen. Erst dann wird die Dynamik der Demokratie in ihrer Vielschichtigkeit begriffen. Erst dann wird sie sicher gegen Angriffe. Weiterhin viel Glück bei Theorie- und Praxisarbeit wünscht sich und euch
Michael J.Rainer, Münster
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