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Poszgay: Stalinismus nicht reformierbar

■ Ungarischer Reformpolitiker und Politbüromitglied gibt US-Propagandasender ein Interview / Anregungen in Westeuropa suchen / ZK der ungarischen KP debattiert Nagy-Rehabilitierung hinter verschlossenen Türen

Budapest/ Berlin (taz/afp/dpa) - Der ungarische Staatsminister und Reformpolitiker Imre Poszgay sorgt für völlig neue und ungewohnte Töne im ungarischen Umgestaltungsprozeß. Als erstes ungarisches Politbüromitglied gab er dem als amerikanische Propagandastation bekannten Sender „Radio Free Europe“ (RFE) ein Interview und kritisierte darin aufs Schärfste den real existierenden Sozialismus stalinistischer Prägung.

Das heutige politische System in Osteuropa, erklärte der mit Abstand beliebteste Politiker Ungarns laut Auskunft von RFE, sei nicht zu reformieren. Diese Systeme, die auf stalinistische Ideen gründeten, seien abzulösen.

Bezogen auf Ungarn erklärte er weiter, dieses System „muß weggefegt werden. Das ist weder Sozialismus, noch entspricht es der europäischen Kultur“. Poszgay sprach sich für die Schaffung einer neuartigen Partei auf der Basis europäischer sozialistischer und sozialdemokratischer Ideen aus. Ungarn solle sich bei den sozialistischen Parteien Frankreichs oder Italiens beziehungsweise bei den Sozialdemokraten Schwedens und der Bundesrepublik Anregungen holen. Eine neue ungarische Partei müsse in der „europäisch-sozialistischen Idee beheimatet“ sein.

Bereits bei einem Aufenthalt in Wien Mitte Mai hatte Pozsgay die Frage einer „freiwilligen Wiedervereinigung“ mit der kürzlich wieder formierten ungarischen Sozialdemokratischen Partei aufgeworfen. Im RFE-Interview erklärte Poszgay abermals, daß er die Absetzung von Parteichef Karoly Grosz anläßlich einer Parteikonferenz im kommenden Herbst nicht ausschließe. „Die Zeiten, da der Generalsekretär nicht kritisiert werden durfte, sind vorbei“.

Hinter verschlossenen Türen tagte gestern unterdessen in Budapest das Zentralkomitee der ungarischen KP über die zukünftige Haltung der Partei zu dem 1958 hingerichteten Imre Nagy. In Parteikreisen wird vermutet, daß endlich seine Rehabilitierung in die Wege geleitet wird. Die sterblichen Überreste von Nagy sollen, wie berichtet, am 16.Juni, dem 31.Jahrestag der Hinrichtung, feierlich beigesetzt werden. Offiziell stand der Fall Nagy allerdings nicht auf der Tagesordnung der ZK-Sitzung. ZK-Sprecher Major ließ lediglich verlauten, man werde sich mit einer Neubewertung der Politik Nagys befassen. Die Reformer der Partei hätten eine Diskussion darüber verlangt. Nagy war während des Ungarn-Aufstands 1956 Parteichef, zusammen mit drei Mitstreitern wurde er 1958 unter dem damaligen KP-Chef Kadar wegen Landesverrats und „Entfesselung des konterrevolutionären Putsches“ zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Kadar, der kürzlich all seiner Parteiämter enthoben wurde und damals die Hinrichtung Nagys zu verantworten hatte, legte unterdessen in einem Zeitungsinterview dar, er habe Nagy „niemals für einen Konterrevolutionär gehalten“.

Bim

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