Weltflüchtlinge, Wichtigtuer

■ Das Theater und kein Nachwuchs

Seit man bei Theater und Theaterkritik vor ein paar Jahren erkannt hat, daß man ein zeitgenössisches Theater, das ein zeitgenössisches Theater ist, nicht 15 Jahre lang mit vier bis fünf Autoren bestreiten kann - ganz zu schweigen von der Handvoll Großregisseure - wird von Zeit zu Zeit die Frage laut, wo denn eigentlich der Nachwuchs bleibe. Selbst schließlich habe man die Bühne damals doch mit solcher Grandezza betreten. Die Väter, die bösen-alten-reaktionären, aus den Intendantensesseln erst und später ganz aus den Theatern gejagt.

Geflissentlich sieht man sich um nach dem Nachwuchs. Und beruhigt feststellend, daß der ganze Kram, der sich einem da als Nachwuchs bietet, sowieso nichts taugt, kehrt man zurück ans Regiepult. In die Feuilletonredaktion.

Alles bleibt beim alten. Immer dieselben Regisseure inszenieren die Stücke immer derselben Autoren. Und immer dieselben Kritiker schreiben darüber. Immer dasselbe, versteht sich. Und falls der Handke mal keinen neuen Handke, der Strauß keinen neuen Strauß geschrieben hat, der ohnehin ein alter ist, greift man auf einen Klassiker zurück. Auch ein Klassiker kann ein Zeitgenosse sein. Man muß ihn nur zu nehmen wissen. Am Ende werden wieder denselben Regisseuren dieselben Preise verliehen. Weil immer dieselben Kritiker in den Jurys sitzen. Theater heute. Theater gestern. Theater vorgestern.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen stehen die Jungen, die sich für den Nachwuchs halten, und klagen. Ihr laßt uns nicht machen!, sagen sie und zeigen vorwurfsvoll auf das Kartell von Theater und Theaterkritik. Aber was ist das für ein Nachwuchs, den man erst machen lassen muß, bevor er macht. Der resigniert, wenn man ihm nicht augenblicklich die Schaubühne, das Burgtheater, das Deutsche Schauspielhaus zu Füßen legt? Wem es um etwas geht, wovon sollte der sich abhalten lassen? Wer was zu sagen hat, wie sollte der aufzuhalten sein? Wird nicht am Ende die falsche Frage auch noch von den falschen Leuten gestellt? Wo bleibt der Nachwuchs? - Schauen wir uns also die an, die das fragen.

Das sind nämlich in der Hauptsache Angehörige jener Generation, die in den 60er Jahren die Studentenrevolte getragen haben. Jetzt kommen sie langsam in das sentimentale Alter um 50, wo man nicht mehr nur nach vorn in die endlosen Weiten einer zu erobernden Welt blickt, sondern auch zurück auf das, was war. Was hat man geschafft, erreicht? Und vor allem, was wird daraus? Wer setzt fort, was man mal angefangen hat? Und plötzlich ist da keiner.

Hier setzt es ein, das Dilemma derjenigen, die einmal das Jahr 1968 zu ihrer eigenen Stunde Null erklärten. Nur wenig ragte da herüber aus dem Dunkel der Vorzeit. Ein paar große Namen: Kortner, Giehse, Weigel, Brecht. Und was für die Nachkriegsgeneration vielleicht Überlebensstrategie war, jetzt zeigt sich spät das Defizit. Denn sie hat sich nicht nur gegen all das, was vor ihr war, hermetisch abgeschottet, sondern auch gegen alles, was nach ihr hätte kommen können. Diese Generation ist unfähig gewesen, Lehrer zu sein. Fehlte ihnen Weisheit und Format? Oder hatten sie Angst, eine nachwachsende Generation könnte ebenso unerbittlich mit ihnen verfahren, wie sie einmal mit denen, bei denen sie selbst gelernt hatten?

Und während sie sich hinter den hochsubventionierten Mauern der Theater verschanzten, ging draußen das Leben weiter. Als sie immer noch mit den eigenen Perspektiven, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten beschäftigt waren, hatten die Menschen draußen längst andere Sachen zu sehen, zu fühlen, zu denken begonnen. Den Zuschauerraum betraten sie mehr und mehr als Fremde.

Wo bleibt der Nachwuchs? Vielleicht ist diese Frage deswegen falsch, weil dort, wohin kein Licht mehr fällt, auch nichts nachwachsen kann. Der Drang nach Selbstverwirklichung reicht nicht aus, um Theater zu machen. Das klingt so simpel, wie es ist - ganz einfach deshalb, weil zum Theater nicht nur die Macher, sondern auch die Zuschauer gehören. Aber die werden von den Machern mehr und mehr als lästig empfunden. Als Störenfriede im trauten Einvernehmen zwischen Künstler und Kunstwerk. Sie taugen höchstens als Stimmvieh - Platzausnutzung heißt das. Ein gewichtiges Argument im Kampf um die Subventionsmillionen.

Wenn es nämlich um deren Verteidigung geht, werden sie erstaunlich aktiv, unsere Weltflüchtlinge. Dann fallen ihnen auch ihre Zuschauer wieder ein. Und mit dem Eifer von Missionaren heben sie die Bemühungen des Theaters um die Rettung der Seele des von den Medien verblödeten Massenmenschen hervor. Dabei stellt sich offenbar niemand die Frage, wie er denn für Leute Theater machen will, die er im Grunde für Idioten hält. Denen er sich nähert, wie der berühmte weiße Mann den Eingeborenen.

Da werden dann SPD-Politiker, die Kulturetats kürzen wollen, gerne als Banausen-Parvenus-Kulturzerstörer beschimpft. Als käme Kultur ausschließlich aus den Finanzreservoirs der öffentlichen Hände. Reklamieren Theaterleute für sich, daß Kulturausgaben Sozialausgaben sind, sogar Zukunftsinvestitionen. Sie sehen sich und ihre Arbeit als Sinngeber in sinnloser Zeit. Wie wenig wahr das aber ist, hat sich in Berlin gezeigt, am 29. Januar und am 1. Mai. In Berlin, wo zwei Jahre lang fette Gelder in die Kultur geflossen sind.

Denn die Kultur, die sich noch immer für eine Festung gegen Entfremdung und Entwirklichung des Lebens hält, ist längst zu deren Instrument geworden. Kultur, die das Wirkliche braucht wie Dracula das frische Blut. Das Wirkliche, von ihr als Material verwandt und ausgesaugt. Der ästhetische Schein schafft es - unmerklich erst, dann immer aggressiver beiseite. Verwandelt Wirkliches in Kulisse, in Fiktion.

Und es spricht viel dafür, daß erhebliche Teile des Zuschauernachwuchses das auch so sehen - die wachsende Kulturfeindlichkeit ebenso wie die Tatsache, daß viele Leute sich ihre Katharsis längst woanders holen: daß ihr Hunger nach Wirklichkeit und Authentizität im Dunkel eines Zuschauerraumes nicht mehr zu erfüllen ist. Manchmal hat eine Gesellschaft andere Sorgen als das Theater. Speziell dann, wenn das Theater unfähig ist, diese Sorgen zu seinen eigenen zu machen.

Esther Slevogt