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Es denkt, ständig

■ Tarkowskis Tagebücher liegen jetzt auf deutsch vor

Im „Filmkunst 66“ in der Berliner Bleibtreustraße sitzt, mit dem Rücken zur Kinoleinwand, ein hagerer Fünfzigjähriger und redet über seine Filme. Der Mann spricht russisch, sein Publikum deutsch, eine Dolmetscherin übersetzt alles Gesprochene umständlich hin und her. Der Mann sagt: „Der Film ist das Schmutzigste überhaupt.“ Dann sagt er: „Der Film ist eine wunderbare Kunst, aber, wie alle Kunst heute, ist auch die Filmkunst hoffnungslos.“ Er klagt, an den Film würden unverhohlen die niedrigsten Ansprüche gestellt, Filme würden als Mittel der Unterhaltung benutzt. Steven Spielbergs Filme liefen in überfüllten Kinos. Allein schon deshalb könne der Amerikaner kein guter Künstler sein. Die Filme seines großen Vorbildes hingegen, des Franzosen Robert Bresson, liefen heute vor leeren Stuhlreihen. „Ich selbst“, sagt der Mann, „mache Filme nicht, um irgend jemanden zu interessieren. Manchmal weiß ich nicht, ob das, was ich mache, überhaupt jemand braucht.“

Er kommt nun auf das Geistige in der Kunst und auf das Leiden zu sprechen: Tiefer als das Leiden der Kreuzigung, sagt er, sei das Leiden des Judas, er sei die eigentliche Rettung, nur mit solch unfaßbarem Leiden habe man die Menschheit retten können. Die Zivilisation werde uns vernichten, assoziiert der Mann weiter, das sei klar. Sie erfinde uns Prothesen und zerstöre jenes Geistige in uns. Da unterbricht er sich: „Ich bin nicht hier, um Ihnen zu predigen.“

Es ist peinlich. Die Dolmetscherin übersetzt die nächste Frage aus dem Publikum. Wie alle Fragen, die an diesen Nachmittagen im „Filmkunst 66“ gestellt werden, gilt sie dem Film. Vom Leiden des Judas und vom Geistigen in der Kunst will niemand etwas wissen. Dieses Gespräch mit Andrej Tarkowski - um ihn handelt es sich, um wen sonst? - fand Mitte Februar 1985 statt. Zwei Wochen später notiert der Regisseur in sein Tagebuch: „Berlin ist eine schreckliche Stadt. Ich muß sie so schnell wie möglich verlassen.“

Tarkowskis Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1970 bis 1986, seinem Todesjahr, sind jetzt als Buch erschienen: 13 in der Sowjetunion und drei im westeuropäischen Exil zugebrachte Jahre. Die Originalaufzeichnungen sind im Besitz von Larissa Tarkowskaja, der Witwe des Filmemachers: Sie und Christiane Bertoncini haben das Buch zusammengestellt. Allzu private, allzu beiläufige und allzu direkt auf lebende Personen bezogene Notizen habe man weggelassen, steht im Vorwort, was immer das heißt. Jedenfalls enthalten die veröffentlichten Tagebücher eine Fülle neuer Informationen über Tarkowskis Arbeit, vor allem über seine Vorarbeiten, verwickelten Ideenwege und Gedankensprünge, über seine (Selbst-)Zweifel und Motive, über totgeborene oder abgewürgte Projekte und über den zähen, entnervenden Krieg des Bürgers Tarkowski mit der Zensur und dem Intrigantenmilieu der Breschnew-Ära, die ihn schließlich außer Landes trieben.

April 1972: „Ich bin nun also 40 Jahre alt geworden. Was habe ich in dieser Zeit zustande gebracht: drei klägliche Filme.“ Aus dem gleichen Jahr datiert eine der vielen Notizen aus dem Innenleben der Zensur. Ein Büro in Moskau. Innen/Tag. Der Filmemacher Tarkowski versucht, vier Filmfunktionären eine Reise nach Paris wegen seines Films Solaris abzuringen: „Baskakow hat sich am schlimmsten aufgeführt. Er hat mit der Begründung abgelehnt, daß er keinen Präzedenzfall für meine Kollegen schaffen wolle. Was für eine dumme und dreiste Argumentation, wo es doch bereits solche Präzedenzfälle aus ähnlichen Gründen gegeben hat. Er faselte sogar etwas von Kommunismus, wobei er sich ängstlich nach allen Seiten umsah. Ich habe ihnen meine Vorstellungen vom Film erläutert. Sie erwarten von mir einen Film über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Ich erwiderte darauf, daß ich zu diesem Themenkreis keinerlei Beziehung hätte, daß mich weit mehr die Probleme der Menschen interessieren würden. Das Gespräch endete damit, daß ich aufgefordert wurde, das Anliegen, das sie sowieso nicht begriffen hatten, ausführlich schriftlich darzulegen. Sie sind sowieso nicht in der Lage, etwas anderes als zweimal im Monat ihre Gehaltsabrechnung zu lesen.“

Ein paar Seiten vorher gibt Tarkowski eine Liste offizieller Beanstandungen an Solaris wieder: „Snout soll nicht über die Sinnlosigkeit der Erforschung des Kosmos reden“, „die Konzeption Gottes muß aus dem Film gestrichen werden“, „die Stellen, in denen Chris ohne Hosen herumläuft, sollen gestrichen werden“, „auf die ausländischen Darsteller soll verzichtet werden“, und so geht es weiter, im Dutzend.

Später im Westen erhielt Tarkowski Geld und Preise, Arbeitsmöglichkeiten, wie er sie nie zuvor gehabt hatte. Aber die Tagebucheintragungen werden, abgesehen von ein paar Glücksmomenten im Verlauf seiner italienischen Reise, nicht fröhlicher. An die Stelle der alptraumhaften Zähigkeit und Widerborstigkeit des Vertrauten tritt die chronische Fremdheit des Tagträumers Tarkowski inmitten seiner neuen, netten, spendierfreudigen Westfreunde. Daheim hatte man ihn verehrt. Nicht trotz, sondern wegen seiner Motive. Weil er etwas ausdrückte, was die atheistische Kulturpolitik auszutreiben versuchte. Im Westen ist er ein Exot. Eine der vielen Inkarnationen des Fürsten Myschkin.

Die Tagebuchnotizen beschäftigen sich häufig mit den großen Russen des 19.Jahrhunderts. Puschkin, Dostojewski, Tolstoi. Auch Bibelstellen, Zitate aus dem Zen-Buddhismus. Eigene Meditationserlebnisse. Der Begriff des „Geistigen“. Kunst, auch ein Film, der etwas wert ist, muß einen „geistigen Gehalt“ haben. Es gibt „geistige“ und dumpf dahinvegetierende Menschen. „Die Abkehr vom Geistigen kann nur Ungeheuer hervorbringen.“ Die westliche Faschismuskritik hat nach der Disposition zum Terror im Individuum, in der Massen- und Individualpsychologie gefragt. Die gleiche Frage führt im Osten, nach der Erfahrung des Stalinismus, anscheinend in eine andere Richtung. Die Begriffe sind nicht die gleichen. So unbefleckt uns das materialistische Analysebesteck erschien, so blutbeschmiert ist es dort. Jeder sucht Rat bei dem, was in der jeweiligen großen Ekstase unter die Räder kam.

In der Sowjetunion pendelte Tarkowski ständig zwischen zwei Welten. Der Welt seiner Filme, seiner religiösen Selbstgespräche, seiner phantastischen Tag- und Nachtträume

-und der Welt seines widerspenstigen Alltags, der Schulden, Krankheiten, nicht enden wollenden Schwierigkeiten beim Ausbau der Datscha, der Bittbriefe, Gerüchte, Zensurkommissionen. Man muß dem in den Tagebüchern festgehaltenen Weg durch diese Niederungen gefolgt sein, um den Titel zu verstehen, der für westliche Ohren nach Pathos und Selbststilisierung klingt: Martyrolog Märtyrergeschichte.

Das Martyrium des Filmemachers Tarkowski hat mit dem Künstler und Menschen vermutlich mehr zu tun als mit den gesellschaftlichen Umständen. Man weiß, es läßt sich leben in der Staatskultur, im Osten wie im Westen, die Beispiele sind Legion. Sätze wie diese, immer wieder: „Ich muß schnellstens gesund werden und den Film fertigdrehen. Immer wieder muß ich feststellen, daß ich falsch lebe. Was ich auch immer tue, es läuft auf etwas Falsches, Verlogenes hinaus.“

Die Kehrseite dieser selbstquälerischen „Ich-muß„-Sätze sind die Zeugnisse kindlich-radikaler Neugier, die „Wie-wäre -es„-Sätze. Während der Dreharbeiten zu Stalker: „Und wie wäre es, wenn ich die Figur des Stalker in meinem nächsten Film (...) radikal zerstörte? Der Stalker beginnt, die Leute mit aller Gewalt in das Zimmer zu schleppen, und verwandelt sich in einen fanatischen Adepten und Faschisten. Mit aller Gewalt zum Glück zwingen. Wie werden Leute geboren, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttern? Ich muß darüber nachdenken.“ Kurz davor schreibt er: „Vielleicht drehe ich einen wunderschönen Film über unseren Vorgarten. Dazu brauche ich aber Kamera und Filmmaterial. Ich muß darüber sorgfältig nachdenken.“

Es denkt, ständig: Junge Pflanzen wachsen nachts, junge Tiere ebenfalls. Wird mein Film Andrej Rubljow je in die Kinos kommen? Warum sterben so viele gute Menschen? Wie entsteht ein Gedanke? - Ist da nicht so etwas wie eine heimliche Entsprechung zwischen dem denkenden Kindskopf Tarkowski und der Stellung des Filmemachers im paternalischen Kulturapparat? Filmemachen unter den sozialen - und psychischen? - Bedingungen Mozarts?

Im Bild anderer Künstler erkennt Tarkowski sich wieder. E.T.A. Hoffmann, Hesse, Bulgakow seien wie Kinder, schreibt er: „Unschuldig, gläubig, leidend, nicht vom Erfolg verwöhnt, schwach, naiv, leidenschaftlich und großmütig.“ Ein solcher Mensch gerät in das Italien/Frankreich/Deutschland der achtziger Jahre. In ein geistiges Klima, das mit allem, was Tarkowski heilig ist, weniger denn je anzufangen weiß. Der russische Homo orientis gerät ins „Filmkunst 66“ in die Bleibtreustraße. Spricht zu einem Publikum, das über die Machart seiner Filme fachsimpeln möchte, die Absichten des Filmemachers jedoch, die Botschaft des Stalker und anderer Fremdenführer, höflich überhört. Man spricht verschiedene Sprachen. Kein Dolmetscher der Welt kann da helfen. Je häufiger Ost und West aufeinandertreffen, desto mehr befremdliche Begegnungen der Tarkowskischen Art wird es geben.

Wolfgang Büscher

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