„Eine richtige Bewegung“

■ Die „Bürgerinitiative gegen Tempo 100 auf der Avus“ bereitet sich auf das große Wochenende vor / Tempo 100 sei nur der Anfang

Bevor er die Versammlung eröffnet, geht Thomas Seidel kurz in sich. Den Kopf auf die Hand gestützt, ist er jetzt nicht mehr zu sprechen. Sekunden später ist der Sprecher der „Bürgerinitiative gegen Tempo 100 auf der Avus“ voll da. „Wenn wir so weitermachen, sind wir spätestens dieses Wochenende eine richtig angesehene Bewegung“, verkündet er den anwesenden Tempolimit-GegnerInnen.

„Das geht nur, wenn alle mitmachen. Wollt ihr das?“ Applaus und Zustimmungsrufe füllen den Saal. Rund 100 Personen haben sich zu diesem Treffen der Bürgerinitiative im Restaurant im S-Bahnhof Wannsee eingefunden. Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen die Autos und Motorräder der Protestler. Keiner, der nicht mindestens ein Plakat gegen Tempo 100 hinter der Windschutzscheibe oder einen Aufkleber auf dem Tank kleben hat. Drinnen im Saal liegt stapelweise Nachschub: Flugblätter, mit denen zur Protestfahrt am Samstag aufgerufen wird, Aufkleber und 10.000 frischgedruckte Unterschriftenlisten.

„Volkstümlich“, sagt Thomas Seidel und hält den Aufkleber „Tempo 100?! Ick gloob, ick spinne“ hoch. Er selbst trägt Dreitagebart, modernen Kurzhaarschnitt und eine Jacke, die bestimmt nicht von C&A ist. Ansonsten sieht man etliche in Motorradkluft, der Kadett und Coupe Club Berlin 1985 ist anwesend, in der Ecke hat der Porsche-Club sein Stammtisch -Schild aufgebaut. „Wir sind eine ganz seltene Allianz hier

-vom Rocker bis zum Porschefahrer“, verkündet Thomas Seidel stolz und beschwört nochmals die Linie. Man sei parteiübergreifend, „nicht die fünfte Kolonne von irgendwem“. Sonst würde die ganze Bewegung auseinanderfallen. Kurz wird noch mal repetiert, wie es der Bürgerinitiative gelang, sich an die Spitze der „Volksbewegung“ gegen Tempo 100 zu stellen. „Wir haben den Mob von der Straße geholt“, verkündet man stolz.

„Auffallen, aber nicht negativ“, heißt jetzt die Devise. „Ich möchte gerne, daß diese Bewegung mit allen im Gespräch bleibt“, fordert Seidel seine Mitstreiter auf. Die besseren Argumente würden am Ende gewinnen. Es müsse aber allen klar sein, daß es um mehr gehe, als um die 6,5 Kilometer lange Avusstrecke. Tempo 100 sei nur der Anfang. „Wir werden bald noch jede Menge Beschränkungen bekommen“, beschwört Seidel und zählt auf: Sperrung der Havelchaussee, flächendeckend Tempo 30, Busspuren bald auf jeder Straße. „Im Endeffekt soll das so aussehen, daß Berlin 'ne autofreie Stadt wird“, empört sich einer. „Ick bin Klempner, soll ick da demnächst mit zwei Klobecken in der U-Bahn sitzen?“

Noch sei die Bewegung nicht politisch, hatte Seidel behauptet. Doch am Nebentisch wird schon der Sturz von Rot -Grün geplant. „Die enttäuschten SPD-Wähler müssen wir für uns gewinnen“, wird konspirativ geplant. An diesem Abend geht es jedoch vor allem um das kommende Wochenende. „Das wird unser großer Tag“, behauptet Seidel. „Ich spüre soviel positive Energie hier.“ Nun gehe es darum, „witzige Ideen und Aktionen zu produzieren“.

„Kauft euch Bettlaken, malt Plakate“, fordert Thomas Seidel auf. Unterschriftenlisten liegen inzwischen in der ganzen Stadt aus. Systematisch werden alle Tankstellen abgeklappert. Nur nach Kreuzberg traut sich keiner hin: „Gneisenaustraße geht vielleicht noch“, ist zu hören. Thomas Seidel spricht sich jedoch gegen einfache Feindbilder aus: „Bei den Radfahrern gibt es viele Leute, die uns feindlich gegenüberstehen. Es ist die Frage, ob das so sein muß?“ Man müsse den Fahrradfahrern eben erklären, daß viele Radwege von vorneherein falsch angelegt worden seien und daß die Autos auf den Radwegen parken müßten, weil Parkplätze aufgrund falscher politischer Planung so knapp seien. „Wir wollen eine Stadt, in der das Leben pulst und in der man trotzdem noch atmen kann!“ Wie das zu bewerkstelligen sein soll, wurde an diesem Abend allerdings nicht näher ausgeführt. Vielleicht, indem mehr Autofahrer auf die BVG umsteigen - so wie die beiden „Tempo 100„-Gegner, die nach der Veranstaltung einträchtig mit mir in die S-Bahn steigen.

-guth